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Sag lieber Raraú zu mir.
Mein Taufname ist ja im Grund Rubini, aber so richtig getauft, auf Raraú, wurde ich erst, als ich mein Theaterdebüt hatte, und mit diesem Namen habe ich es bis dahin gebracht, wo ich jetzt bin. Im Krankenscheinheft habe ich auch "Fräulein Raraú, Schauspielerin" danebengeschrieben, und so wird es auf meinem Grabstein stehen. Rubini hab ich gestrichen. Abgeschrieben. Und erst recht den Nachnamen, Meskan.


Lesezitat nach Pavlos Matessis - Die Tochter der Hündin


Frauenschicksale
Pavlos Matessis - Die Tochter der Hündin

ie Griechin Rubíni ergreift das Wort, nachdem sie ihre Mutter in Athen beerdigt hat Gleich einem Wasserfall, breitet sie ihre und die Geschichte ihrer Familie vor dem Leser aus.

Aufgewachsen ist sie in einem griechischen Provinzstädtchen. Und die ersten Risse in der intakten Familienwelt treten auf, als der Vater nach Albanien in den Krieg zieht und seine Frau mit drei Kindern zurücklässt. Geld? Fehlanzeige. Prekär wird die Situation, als die deutschen und italienischen Besatzer kommen. Schon bald wird der Hunger unerträglich. "In jenem zweiten Jahr der Besatzungszeit musste ich eines Tages lachen, Jungs, sagte ich zu meinen Brüdern, wir schließen eine Wette ab, wie viele Tage wir durchhalten. Sechsundzwanzig Tage ohne Brot, wie aßen Wildkräuter und ungekochten Kaffee, geschrotete Kaffeebohnen, ein Geschäft war gestürmt worden, und ich hatte bloß den Kaffe erwischt."

Als letzten Ausweg, um ihre Kinder vor dem Hungertod zu retten, empfängt die Mutter einen italienischen Soldaten aus der Kommandantur. Ab jetzt ist der Tisch reichlich gedeckt und die Kinder wissen schon bald, dass wenn Herr Alfio die Mutter besucht, sie draußen spielen müssen. Der große Sohn verzeiht ihr dieses Verhalten nicht und verlässt voller Empörung das Haus - für immer.

Bei Kriegsende wird sie als Kollaborateurin mit anderen Frauen auf einem Lastwagen durchs Dorf gefahren, beschimpft, bespuckt, verachtet. Sie kommt kahl geschoren zu ihren Kindern zurück und spricht ab diesem Zeitpunkt kein Wort mehr. Jede Unterhaltung wird schwierig, denn sie ist Analphabetin. Bald schon ziehen die beiden Frauen nach Athen, um dort ihr Glück zu suchen.

Es sind archaische, sehr eindringlich Bilder, in denen Pavlos Matessis die Besatzungszeit schildert. Und so ganz ist seiner Protagonistin Rubíni nicht zu trauen. Immer sagt sie nicht die Wahrheit, schönt ein wenig ihre Erinnerungen, um den Schrecken und den Hunger, der sich einfach nicht ständig "mit Witzen fort lachen lässt," auszuhalten. Es sind die kleinen, einfachen Leute, die Matessis hervorragend beschreibt, die sich mit Humor und Bauernschläue durchschlagen, und für die Fragen der Moral in Zeiten der Not und des Hungers zweitrangig werden. © manuela haselberger


Pavlos Matessis - Die Tochter der Hündin
Originaltitel: I mitera tou skilou, 1996
Übersetzt von Birgit Hildebrandt
2001, München, Hanser, 271S. / ca. 19.90 €

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Fortsetzung des Lesezitats ...

Geboren bin ich in Epálxis. Auch eine Hauptstadt, aber in der Provinz. Mit Fünfzehn bin ich abgehauen, mit meiner Mutter und drei Scheiben Brot, ein paar Monate nach ihrer öffentlichen Zurschaustellung, als noch die sogenannte Befreiung gefeiert wurde. Und ich werde nie wieder dahin zurückgehen. Auch meine Mutter wird nie wieder dahin zurückgehen. Ich habe sie hier in Athen bestattet, der einzige Luxus, um den sie mich je gebeten hat, als Letzten Willen. "Mein Kind, jetzt, wo ich sterbe, wünsche ich mir nur den einen Luxus: daß du mich hier begräbst. Damit ich nie wieder dahin zurück muß. " (Sie nahm das Wort "Epálxis" nie wieder in den Mund, obwohl es ihre Geburtsstadt war.) "Setz alles in Bewegung und besorge mir einen Grabplatz auf Lebenszeit. Sonst hab ich dich noch nie um etwas gebeten. Nicht einmal meine Gebeine sollen dahin zurückkehren müssen."

Und so hab ich ihr das Grab gekauft, kein luxuriöses natürlich, und besuche sie immer mal wieder. Ich schenke ihr eine Blume, ein Stück Schokolade, besprenge sie ein bißchen mit meinem Kölnisch Wasser - das mach ich extra, denn solange sie noch lebte, hat sie mir das nicht erlaubt, sie hat es als sündigen Luxus betrachtet. Nur ein einziges Mal, sagte sie, hab ich mir Kölnisch Wasser draufgetan, bei meiner Hochzeit. Jetzt spritze ich ihr ein paar Tropfen hin, soll sie doch ruhig was dagegen einwenden, wenn sie kann. Die Schokolade bringe ich ihr, weil das, wie sie mir erzählt hat, während der vier Besatzungsjahre ihr Traum war: eine Tafel Schokolade zu essen, die ihr ganz alleine gehörte. Nach der Besatzungszeit wurde sie ganz verbittert und wollte seither nie mehr eine Schokolade.

Ich besitze auch eine kleine Wohnung, zwei Zimmer und Diele, und die Rente als Tochter eines in Albanien gefallenen Helden, und zusätzlich hab ich noch eine Rente als Schauspielerin zu erwarten, sobald ich die notwendigen Versicherungsmarken zusammenhabe, und überhaupt bin ich durchweg glücklich und zufrieden. Ich habe keinen Menschen zu versorgen, zu lieben oder zu betrauern, ich habe einen Plattenspieler und Platten, hauptsächlich mit linken Liedern. Ich persönlich bin ja an sich königstreu, aber die Lieder der Linken gehen mir einfach zu Herzen. Ein Segen, daß ich glücklich bin.

Mein Vater war Innereienmetzger von Beruf, aber das erzählten wir nicht herum. Er ging in die Schlachthöfe, holte die Gedärme und spülte sie aus, stülpte sie der Reihe nach um, damit man gefüllten Darm und Darmspieße für den Grill machen konnte. Ich habe ihn noch ganz jung in Erinnerung, er dürfte so vierundzwanzig gewesen sein. Das heißt, von einem Hochzeitsfoto her, aus dem Jahr 1932, denn persönlich ist er mir fast überhaupt nicht mehr gegenwärtig. 1940, als er nach Albanien ging, waren ich und meine zwei Geschwister schon geboren, S. 7-8

In jenem zweiten Jahr der Besatzungszeit mußte ich eines Tages lachen, Jungs, sagte ich zu meinen Brüdern, wir schließen eine Wette ab, wie viele Tage wir durchhalten. Sechsundzwanzig Tage ohne Brot, wir aßen Wildkräuter und ungekochten Kaffee, geschrotete Kaffeebohnen, ein Geschäft war gestürmt worden, und ich hatte bloß den Kaffee erwischt. Jedes von uns Kindern aß immer am Nachmittag eine halbe Handvoll davon, und danach gingen wir raus und spielten. Meine Mutter erlaubte uns an sich nicht zu spielen, denn wir wurden oft mittendrin ohnmächtig, Hunger hatten wir keinen mehr, aber wir liefen sehr langsam. Die Geschäfte waren damals zum ersten Mal gestürmt worden, bis dahin hatte uns der Anstand zurückgehalten, die gesamte Bevölkerung. Nun war aber eine Verteilung von Lebensmitteln durchs Rote Kreuz angesetzt worden. Wir Geschwister stellten uns ab acht Uhr morgens zu dritt in der Schlange an, ich ging an dem Tag nicht in die Schule, wir gingen jetzt oft nicht zur Schule. Meine Mutter kam nie mit zu so einer Verteilung, ich weiß auch nicht, warum sie sich schämte, uns allerdings gab sie die Erlaubnis dazu, nur gewaschen mußten wir sein.

Wir standen also in der Schlange an. Und gegen halb vier verkündete man uns, daß es keine Lebensmittelzuteilung geben würde. Da ging durch alle, so um die dreihundert Leute, so etwas wie ein Ruck. Wir machten den Mund nicht auf, nicht einer. Dann drehten wir uns alle ohne jeden Mucks um und drückten die Türen von drei Geschäften ein, mit dem Rücken und mit Hieben, das eine war ein Geschäft für Damenmode, schon eine ganze Zeit lang geschlossen. Und griffen uns, was wir gerade fanden. S. 21

Stundenlang saß Aphrodhiti an ihrem Fenster, die Scheibengardine halb zurückgezogen, die Augen starr in die Ferne gerichtet, aber sie schaute ins Leere. Als sie dann hinfällig wurde, trug ihre Mutter sie auf den Armen zum Stuhl und setzte sie nieder. Über Stunden hin malte sie mit dem Finger unsichtbare Zeichnungen auf die Scheibe. Ich grüßte sie von unten, und sie beachtete mich kaum.

Unterdessen waren die Tiritómbas, die Familie des Theatermannes, zu einer Tournee aufgebrochen, das erzähl ich dir aber später, das ist eine Geschichte für sich, die sind doch glatt wegen einer Ziege auf Tournee gegangen, das muß man sich vorstellen!

Wir hungerten nicht mehr. Nicht daß wir fürstlich lebten, aber mit dem wenigen, was Herr Alfio einmal pro Woche mitbrachte, kamen wir durch, und Fánis, unser Jüngster, erholte sich von dem Drüsenfieber. Herr Alfio setzte seine Beziehung zu meiner Mutter fort, denn mit meiner Mutter war es für ihn angenehmer als mit Prostituierten, abgesehen davon brauchte er keine Geschlechtskrankheiten zu fürchten, und außerdem war er in seiner Heimat verheiratet und ziemlich zurückhaltend, da hätte er sich mit einer Hure nicht einlassen können, darüber hinaus liebte er seine Frau, er lobte sie immer in den höchsten Tönen, wenn er uns von ihr erzählte. Insofern zog er es vor, seine sexuellen Bedürfnisse mit einer häuslichen und anständigen Frau zu befriedigen.

Meine Mutter vermied es, aus dem Haus zu gehen. Abgesehen von dem einen oder anderen Abend, wenn Frau Kanéllo sie rief, um ein bißchen mit ihr zusammenzusein, oder damit sie ihr bei der Wäsche half, beim Spülen. Inzwischen hatten sich die strengen Ausgangszeiten gelockert, der Besatzer hatte begriffen, daß wir gehorsame Besetzte waren, und der Verkehr war bis Mitternacht gestattet. S. 41

Kaum war ich zurück, sagte meine Mutter zu mir: bei Aphrodhiti erlischt das Lebenslicht, das Öl geht zur Neige, komm mit und sag ihr ade. Ich stieg bloß die Treppe hinauf, die Haustür stand offen, als feierten sie Namenstag, zwei Italiener, die daran vorbeikamen, hielten es sogar für ein Bordell und kamen hinauf bis zur Wohnungstür. Ich warf einen Blick in die Wohnung, ins Zimmer des Mädchens, und sah nur ihre Füße, Frau Kanéllo rieb sie ihr warm, und Aphrodhitis Mutter häkelte Spitzen. Aber in dem Augenblick rief mich Fánis von unten, sie haben Partisanen gebracht, komm mit! Wir rannten zum Marktplatz, falscher Alarm. Wenn sie erschossene Partisanen brachten, kippten sie sie auf den Marktplatz, zur Abschreckung. Jetzt dagegen hatten sie lebende Partisanen gebracht, die hielten sie in Arrest, als Gefängnis hatten sie ein ganz normales Haus angemietet.

Es gab auch Partisaninnen. Sie waren alle ziemlich schmächtige Menschen, bloß Haut und Knochen, völlig ausgemergelt, zum ersten Mal sah ich Frauen in Uniform, für mich sahen sie wie Bäuerinnen aus. Die Italiener ließen uns die Partisanen begaffen, aber später kam der Lastwagen mit den Teutonen angerattert, da scheuchten sie uns weg, via, via, riefen sie uns zu. Und wir verzogen uns. So sah ich zum erstenmal lebende Partisanen. Sie hielten sie in der Küche des Gefängnisses, sie hatten so zirka zwanzig hineingesteckt, wie die da hineingingen, blieb ein Rätsel. Hauptsächlich das beschäftigte mich, außer der Uniform, die die Frauen trugen. Ich würde nie eine Uniform tragen, und wenn ich vor Kälte eingehen sollte, selbst wenn das von mir nicht eines, sondern zehn Vaterländer verlangen würden, schon damals war ich kokett, ohne mir dessen bewußt zu sein, deshalb waren die Männer mein Leben lang hinter mir her, auch heute noch sind es ein paar.

Jedenfalls enttäuschten mich die Partisanen zutiefst, als Männer. Unter uns Frauen hatten wir alle heimlich über sie geredet, und ich hatte mir vorgestellt, sie wären wie der Kapitän Apéthantos in den Räuberromanen, die uns Fräulein Salome vorzulesen pflegte: Riesenkerle, drei Meter groß, wohl-genährt und ein Siegerlächeln auf den Lippen, wie nach dem Krieg die Hollywoodstars in den Kriegsfilmen, in denen sie exotische Länder befreien. Fräulein Salome pries die Partisanen in den höchsten Tönen, die war eben auch aus einer linken Familie, wirst du mir jetzt sagen. Wir versammelten uns im Haus der Familie Tiritómba, das war, bevor sie zur Tournee aufbrachen, und lachten den Hunger mit Witzen fort. Aphrodhitis Mutter brachte auch ihre Häkelei mit, meine Mutter Flickwäsche, Frau Kanéllo brachte ein paar Frikadellen aus Kichererbsen zum Anbieten. Und sie redeten immerzu darüber, was Herr Churchill im Radio gesagt hätte. Frau Adriána Tiritómba strickte ein Wollhemd aus aufgeribbelter Wolle. Sie strickten "Das Partisanenhemd", das war eine Erfindung von Frau Kanéllo, sowie sie im Albanienkrieg "Das Soldatenhemd" gestrickt hatten.

Fräulein Salome strickte an einer Unterhose. Als sie sie eines Tages ausbreitete, um sie auszumessen, hatte sie ein Ding von zwei Metern Länge mit einer Ausbuchtung von der Größe eines Kinderkopfs zwischen den Schenkeln gestrickt. Mensch, spinnst du denn total, sagte Frau Kanéllo zu ihr, da gehen doch drei rein. Diese Verleumdung erlaubst du dir, weil du für den König bist, warf ihr Salome vor, und weil du "Die Bewegung" runtermachen willst. Die Partisanen sind Kolosse, was glaubt ihr denn, wie die aussehen? Ach was, sagte Frau Adriána, wer Hunger hat, sieht eben Brotlaibe. Und zeigte auf die Ausbuchtung, die zwischen den Hosenbeinen baumelte. Daraufhin hatten sie einen Riesenkrach. Aber bei mir hatte sich seither die Vorstellung eingenistet, daß die Partisanen größer sein müßten als die normalen Menschen, und deshalb war ich an jenem Abend so von ihnen enttäuscht, als ich sie zum ersten Mal lebend in der Küche des Arresthauses zu Gesicht bekam. S. 52-53

Lesezitate nach Pavlos Matessis - Die Tochter der Hündin




TV-Tipp
3sat
drs/SF1

D. Cohn-Bendits Literaturclub beschäftigt sich am 2.10.01 und am 7.10.01 mit diesem Buch


© 28.9.2001 by
Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de