ERSTES KAPITEL
Gopals Visionen endeten, als ihm Brüste zu wachsen begannen. Er war fünfzehn. Es waren nicht die
schlaffen Brüste alter Männer, sondern der kleine, feste, unverkennbare Busen eines jungen Mädchens, das noch nicht stolz ist auf seine Rundungen. Er war immer schon ein pummeliges Kind gewesen, doch nun schwoll das Fleisch auf seiner Brust an und formte zwei deutlich sichtbare Hügel. Am Anfang hielt er eine Zeitlang seinen Oberkörper selbst in der größten Sommerhitze mit einem Tuch bedeckt. Wenn er sah, daß auf den Feldern niemand in seiner Nähe war, schlug er auf seine Brüste ein und rief:
»Geht wieder hinein, geht wieder hinein!«
Doch das waren nicht die einzigen Veränderungen, die an seinem Körper auftraten. Gleichzeitig mit seinen Brüsten wurden auch seine Genitalien größer und färbten sich dunkler als der Best seiner Haut. Seine Schultern wurden breiter, aber auch seine Hüften rundeten sich sichtlich. Damals glaubte er, die Zeit seiner ekstatischen Erfahrungen sei zu Ende, weil sich die Götter von ihm abgewandt hatten, da er kein Kind mehr war; er glaubte, ihnen mißfiele, wie sein Körper sich veränderte.
Seit seinem zehnten Lebensjahr war er bei religiösen Zeremonien und Festen im Dorf immer sehr begehrt gewesen, und er liebte es, bei diesen Gelegenheiten zum Lob des Gottes oder der Göttin, die gerade gefeiert wurden, zu singen. Was seine Zuhörer so faszinierte, waren nicht nur seine süße Stimme, ein lyrischer Sopran, und sein Gespür für Melodie und Rhythmus, sondern die Intensität und Aufrichtigkeit der Gefühle, die er in seinen Gesang legte, besonders bei jenen Liedern, die Krishna, seinen Lieblingsgott, priesen. Dreimal hatte er, während er vor den Gläubigen saß und mit anderen gemeinsam sang, gesehen, wie das Bildnis des Gottes zum Leben erwachte. Unwillkürlich war er aufgestanden und hatte seine Arme nach dem Gott ausgestreckt. Während sich eine ehrfürchtige Stille auf die Versammlung herabsenkte, begann sein Körper sich im Rhythmus zu bewegen, und Loblieder stiegen trillernd aus den liefen seiner Brust auf, ohne daß er bewußt ein bestimmtes Lied gewählt oder gar auf den Text geachtet hätte. Er geriet immer mehr in ekstatische Verzückung und Tränen des Glücks flossen in einem unablässigen Strom aus seinen halbgeschlossenen Augen. Nach einer Weile war seine Entrückung so vollkommen, daß sein Gesang mitten im Satz abbrach. Seine Gliedmaßen versteiften sich, sein Körper wurde starr wie eine Statue, und man mußte ihn stützen, damit er nicht stürzte und sich verletzte.
Er war beinahe vierzehn Jahre alt, als ihm die letzte und eindrucksvollste Vision seiner Kindheit gewährt wurde. Es geschah am frühen Abend, zu Beginn der Monsunzeit, als sich die Sturmwolken noch nicht zu einer dunklen Masse aufgetürmt und den Himmel vollständig verdeckt hatten, sondern immer noch klein und verspielt in Scharen über den Himmel zogen. Er war gerade auf dem Heimweg und ging, Puffreis knabbernd, auf einem schmalen Lehmdamm zwischen den gepflügten Feldern hindurch, als er aufsah und über sich einen Schwarm weißer Kraniche erblickte, die in einem Bogen vor einer tintenschwarzen Wolke flogen, eine Wolke, die sich ausdehnte und nach und nach die untergehende Sonne auslöschte. Der Kontrast zwischen den Formen war von so großer Schönheit, daß er voller Staunen auf die Knie sank. Eine gewaltige Kraft hob ihn vom Boden auf, während er weiterhin vergeblich kniete, und trug ihn in das Bild hinein, das er gerade gesehen hatte. Die Wolke und die Kraniche beschrieben einen Bogen und füllten nun sein gesamtes Blickfeld aus. Die frisch umgepflügten Erdklumpen auf den Feldern und die Vogelscheuche aus getrockneten Hirsehalmen, die nur ein paar Meter links von ihm stand, verschwanden. Er hatte das Gefühl, die Wolke beinahe berühren und seine Hand durch den blutroten Lichtfetzen stecken zu können, der sie begrenzte. Er konnte den kommenden Regen riechen und die kühle Luft spüren, die bald heranwehen würde, während seine Füße in Erwartung des Auftreffens auf die feuchte Erde kribbelten.
Dann begann sich der äußere Rand seines Blickfeldes zu verdunkeln. Die Wolke und die Kraniche wurden von der sich ausbreitenden Dunkelheit verschluckt. Diese verstärkte sich noch den Bruchteil einer Sekunde lang, ehe in ihrem Inneren wie bei einem rasend schnellen Sonnenaufgang plötzlich ein Licht aufstrahlte und seinen gesamten Gesichtskreis erleuchtete. Nun sah er Krishnas breite, blauschwarze Brust, über der ein Kranz aus weißen Jasminblüten lag. Sie wirkte so einladend, daß er dem Drang, seinen Kopf an das dunkle Fleisch des Gottes zu lehnen, nicht widerstehen konnte. Als seine Wange die dunkle Haut des Gottes berührte, brandete die Ekstase in einem so machtvollen Strom durch seine Glieder, erfüllte ihn mit so überwältigender Verzückung, daß er nicht länger das Gefühl hatte, in seinem Körper zu sein.
Als er an jenem Abend wieder zu sich kam - er war nicht bewußtlos gewesen, sondern nur abwesend, ekstatisch abwesend -, war er zu Hause. Er lag auf der vertrauten Strohmatte, die auf dem Lehmboden ihrer Hütte ausgebreitet war. Eine Petroleumlampe, die in einer Ecke brannte, warf die flackernden Schatten seiner Mutter und der beiden auf dem Boden hockenden Männer auf die Wand vor ihm. Sein Kopf lag weich im Schoß seiner Mutter. Sie wiegte ihren Oberkörper vor und zurück, während sie verzweifelt vor sich hin wimmerte. Die beiden Bauern, die ihn scheinbar bewußtlos auf dem Feld gefunden und nach Hause gebracht hatten, versuchten vergeblich, sie davon zu überzeugen, daß dem Jungen nichts fehle und er nur ohnmächtig geworden sei. Als sie sah, daß er die Augen aufschlug, umschlang sie seinen Kopf mit ihren Armen und preßte ihn krampfhaft an ihre bebende Brust. Vor Erleichterung weinend, bedeckte sie sein Gesicht mit Küssen und verrieb ihre warmen Tränen auf seiner Haut.
Seine Mutter machte sich Sorgen um ihn. Amba war selbst tiefreligiös, und so begrüßte sie es, wenn ihr Sohn begeistert an ihrer täglichen Verehrung der Hausgötter teilnahm. Doch sie fühlte sich unwohl dabei, ihn zu den rituellen Zeremonien der Nachbarn gehen zu lassen. Sie fand es nicht normal, daß ein Junge in seinem Alter schon so religiös war. Sie runzelte die Stirn, wenn die Frauen aus dem Dorf behaupteten, er sei ein außergewöhnlich begnadetes Kind. "O Gopals Mutter", sagten sie, "wir sind wie Tiere, wenn wir nicht Gott zu Ehren singen. Der Heilige Surdas sagt, sich singend den Füßen Gottes zu nähern reiche aus, um Steine auf dem Wasser schwimmen zu lassen, und dein Sohn wurde durch Gott gesegnet, so daß er Ihn im Reich des Gesangs zu rühren weiß. Er ist dazu bestimmt, ein großer Heiliger zu werden, so wie Surdas oder Kabir" Amba mochte es nicht, wenn sie von Heiligen sprachen. S. 9-12
»Und dann ließen wir dein Horoskop erstellen. Das Horoskop sagte voraus, daß auch du, noch ehe du dreißig wärst, die Welt verlassen und ein sadhu werden würdest.
"Schicksal bedeutet nur eine höhere Wahrscheinlichkeit", sagte dein Vater, als er das Horoskop sah, dann schloß er es weg. "Die Bemühungen des Menschen können diese Wahrscheinlichkeit verringern, bis sie nicht mehr schicksalhaft ist. Kein Sohn von mir wird jemals ein Wandermönch. Wir haben genug davon in diesem rückständigen Land."«
Erst als Trilok Nath zwei Jahre, nachdem die Fürstentümer von Rajputana in das seit kurzem unabhängige Indien eingegliedert worden waren, mit seiner Familie nach Jaipur zog, nahm er die Erziehung seines Sohnes, der damals sechs Jahre alt war, selbst in die Hand und begann seinen Feldzug gegen die Zukunft, die Vivek in seinem Horoskop vorhergesagt worden war. Viveks frühe Kindheit, die von der Gegenwart seiner Mutter und ihrer Götter und Göttinnen durchdrungen war, fand damit ein abruptes Ende. Seine Mutter nahm die Tatsache, daß er sie verließ, mit der gleichen stoischen Ruhe hin wie Sharada Devis Kränkungen oder die Gleichgültigkeit ihres Mannes. Es war nun einmal der Lauf der Welt, daß eine Mutter ihren Sohn ab einem gewissen Alter seinem Vater und der Männerwelt, für die dieser stand, überlassen mußte. Sie fütterte und kleidete immer noch liebevoll seinen Körper, doch sie sah ein, daß seinem Geist eine Form gegeben wurde, die von nun an sein Vater vorgab. Vielleicht später, wenn er ein Mann war, konnte sie versuchen, ihm eine Brücke zurück in ihre Zwei-Personen-Welt zu bauen. "Weißt du noch, damals, als du ein kleiner Junge warst .. .?" würde sie seine Erinnerung zu wecken versuchen, unsicher, ob er ihr Angebot annehmen würde. Sie wünschte, sie hätte eine Tochter bekommen. Töchter waren anders. S. 70
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Lesezitate nach Sudhir Kakar - Der Mystiker oder Die Kunst der Ekstase