Oran, erstorbene Sprache
Lesen, schreiben, brüllen, kotzen,
das lernte ich in Algerien.
Helene Cixous, La jeune née
Für Yamina
Liebe Olivia! In diesen Ferien komme ich nicht zu Euch nach Sardinien wie letzten Sommer. Ich fahre nach Hause. "Wohin?", wirst Du fragen. Ich schreibe es Dir:
ich wage es Dir nicht laut zu sagen. Ich irre in der beginnenden Junihitze umher, ich irre durch die Straßen von Paris, und ich habe beschlossen: Ich fahre nach Hause. Wohin?", wirst Du wieder fragen, und Deine Augen werden noch größer. Olivia, dieses Jahr wird es für mich keine Kopfsprünge in die Bäche Eures Dorfes geben, ich werde nicht nächtelang auf dem alten Platz sitzen, mit euren Nachbarn und den von weit her gekommenen Freunden. Ich fahre nach Hause, Olivia. Morgen sage ich es Dir oder übermorgen. Oder ich schreibe es Dir.
Fahre ich diesmal wirklich nach Hause? Oder vielmehr zu meiner Mutter, das heißt zu meiner Tante mütterlicherseits. Ihre Kräfte schwinden, sie wird alt. Vor zwei Jahren noch erwartete ich sie um die gleiche Jahreszeit auf dem Flughafen Orly. Sie blieb kaum einen Tag in Paris. Anschließend begleitete ich sie zur Kur nach Savoyen. Ich ging mit ihr jeden Morgen zu den Anwendungen im Thermalbad. Den Rest des Tages spazierten wir mit kleinen Schritten den See entlang. Sie erzählte mir, meine Tante, sie erzählte mir nur von zu Hause.
Als die Kur zu Ende war, hatte sie es eilig, in die Heimat zurückzukehren, ich verabschiedete mich von ihr. Erleichtert reiste ich zu Euch, in Euer sardisches Dorf.
Diesmal habe ich Dir geschrieben, Olivia. "Erwartet mich in diesen Ferien nicht bei Euch! Wir beide treffen uns im September wieder, im Lycée, wo wir unterrichten."
Du hast Deine Abreise jedoch um einen Tag verschoben. Du kamst sofort angerannt: "Was ist mit den Attentaten? Sie passieren auch in deiner Stadt, obwohl du sagtest, sie bliebe verschont!"
Du warst besorgt, Du ließest nicht locker: "Wirst du auch dorthin fahren?"
"Der Tod kommt im Reigen, Olivia. Er kommt als schauriger Tänzer. Du siehst es ja an der Nachricht dieser Woche, ein Rai-Sänger wurde umgebracht, sie erschießen sogar die Nachtigall! Was soll man machen, und vor allem, wie soll man das verstehen?"
Selten spreche ich über unsere Stadt, doch da war dieser Gedanke: "Ich kenne die Leute dort drüben: Für einen Todesfall oder einen Mord opfern sie drei Tage. Die verbringen sie mit Weinen, in Schweigen oder im Gebet. Aber für Feste brauchen sie mindestens sieben! So ist es in Oran, wie es im übrigen Land ist, weiß ich nicht...
Endlich hatte ich meine Bitterkeit laut ausgesprochen, so wurde sie deutlich, und ich konnte mir selbst über sie klar werden: "In Oran gibt es drei Tage Weinen und Schweigen für einen, auch für zwei Ermordete! ... Danach geht das Leben weiter
In Oran vergisst man. Vergessen über Vergessen. Eine weißgewaschene Stadt, ein geweißtes Gedächtnis. Nach der Unabhängigkeit haben sie das Herz der Stadt zehn Jahre lang aussterben lassen - mit Ausnahme einiger Büros, der Verwaltungssitze von zwei, drei Staatsfirmen.
Freilich, die Schar der kabylischen Händler und der Geschäftsleute aus Tlemcen ist dann zurückgeströmt. Da die beiden Gruppen im Wettbewerb standen, war in nur zwei, drei Monaten die verlorene Zeit wieder aufgeholt. Die Leere wurde wieder bevölkert, sogar überfüllt!
Doch davor war die ganzen Sechzigerjahre hindurch das Herz von Oran zerstört. Mit Melancholie und Wehmut bestäubte Fassaden, Läden mit herabgelassenen Metalljalousien, Wohnhäuser der Jahrhundertwende mit eleganten Balkonen, aber ganze Etagen verschlossen und erloschen, in den langen, engen Straßen kein Kindergeschrei und keine Rufe spottlustiger Mütter. Kein Bettler, nicht einmal ein blinder, wagte sich von El Hamri bis hierher!
Gewiss, ein paar Cafes an den Straßenkreuzungen waren noch besucht. Zwei, drei Hotels wurden renoviert
und mit dem Anspruch, "schick" zu sein, neu eröffnet:
Sie gehörten reichen Leuten aus der Hauptstadt, die ihr Geld hier anlegten, für die Zukunft... Für die Zeit, wenn Oran endlich wiedererstehen würde, aufwachte als die "Fröhliche", genau wie früher: dieser Ruf war nur für eine Weile verschwunden ... Die Docker, die Arbeiter und selbst die Ganoven - Letztere schauten sich nur kurz in den Hafenvierteln um, auf der Durchreise nach Spanien oder Marseille -, sie alle suchten nur zaghaft die einst so beliebten Orte auf, als fürchteten sie, Abwesende, die nicht wirklich abwesend waren, könnten sich bemerkbar machen. S. 11-14
"Sie haben fünf Priesterinnen, sie werden so genannt, aber in Wirklichkeit sind sie Totenwäscherinnen, so genannte ghassalines. Eine von Ihnen, die bedeutendste, die auch die gelehrteste in der Auslegung des Koran ist, übt eine gefürchtete religiöse Autorität über anderen aus, die tebria. "
"Tebria?", fragte Djamila.
"Ja, das Recht, sie auszuschließen, die bei weitem schlimmste Strafe, die früher Mamma Sliman erlassen konnte - wegen ihres Wissens, ihrer Gerechtigkeit und er Mäßigung war sie die am höchsten geachtete Totenwäscherin. Eine Strafe gegen die Frau, die sich auflehnte und danach keine Reue zeigte!"
Ist die tebria so schlimm?", überlegte Djamila laut nach einer Schweigepause.
"Ja ", bekräftigte ich, "im Sterben zu wissen, dass man nach dem Tod nicht gemäß den Regeln des Korans gewaschen wird, dass man allein begraben wird, ohne die Gebete und die Liebe der Angehörigen: Was könnte es auf den Schlimmeres geben? "
"Das Exil", warf der Musiker ein. Nach einem Zögern verbesserte er sich:
"Zumindest das Exil ohne Hoffnung auf Rückkehr! Und das, so müssen Sie bedenken, liebe Isma, ist eine
tebria bei lebendigem Leib und nicht für einen, der im Sterben liegt!"
Sein dunkles Gesicht zeigte Erschütterung. Er wandte Djamila zu: "Wir wollen zu Anfang vom Blatt üben!"
Er nahm mich am Arm, jetzt hatte er wieder sein betörendes Lächeln. "Isma wird auf die Worte achten, sie wird bei dieser ersten Probe die Autorität über uns ausüben!"
Er schien plötzlich fast zärtlich gestimmt. Während zusammen das Studio betraten, fügte er neckend hinzu: "Hätten Sie als ibaditische Frau gelebt, Lalla Isma, ich wette, Sie wären entweder die oberste Totenwäscherin gewesen, mit allen Befugnissen, oder die Ausgeschlossene!
"Ich stamme nicht aus einer Oase des Mzab", widersprach ich und setzte mich neben sie. "Ich bin in der hohen Stadt Cirta geboren!" S. 79-80
Lesezitate nach Assia Djebar - Oran - Algerische Nacht