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Rock `n Roll aus Schweden
Mikael Niemi - Populärmusik aus Vittula

it Mikael Niemi, geboren 1959, erobert ein neuer schwedischer Autor die deutsche Buchszene. Sein Thema, Kindheit in den 60er-Jahren, ist nicht neu, doch die Art und Weise, wie er über Hochzeiten erzählt, die in massiven Schlägereien und Besäufnissen bis zur Besinnungslosigkeit enden, das kann sich sehen lassen. Niemi erzählt mit einer Menge Humor, wobei dem Leser das Lachen manchmal im Halse stecken bleibt.

Diese Kombination aus Komik und Tragik zugleich, ist sicher mit ein Grund, warum der Roman mit dem überhaupt nicht eingängigen Titel "Populärmusik aus Vittula" in Schweden sämtliche Verkaufsrekorde brach und mit Preisen nur so überschüttet wurde.

Niemi beherrscht die Kunst glänzend, von großen einschneidenden Ereignissen aus der Kindheit des Erzählers zu berichten, die dann mit einem Halbsatz ins Komische und Absurde abrutschen.

Ein Beispiel dafür ist die wunderbare Freundschaft des Erzählers mit dem gleichaltrigen Jungen Niila. Niila, der so lange schweigt und kein Wort spricht, lediglich versonnen den Schulfunk - Sendungen im Radio lauscht, bis er in der Lage ist, flüssig die Kunstsprache Esperanto zu sprechen.

Auch nicht schlecht für die Lachmuskeln ist der geniale erste Auftritt der Schülerband, denn auch in der nördlichsten Ecke Schwedens haben die Beatles den Musikmarkt erobert und die Jungs üben verzweifelt ihre Hits nachzuspielen. Wenn dann das begeisterte Publikum bei ihrem ersten Auftritt gar nicht merkt, dass sie nur ein einziges Lied in verschiedenen Variationen zum Besten geben, sondern alle völlig hin und weg sind vom diesem ungewohnten neuen Sound, selber schuld. Eben.

"Etwas peinlich war auch, dass viele den zweiten Song am besten fanden. Einige waren dagegen der Meinung, der dritte sei der Beste gewesen oder vielleicht auch der Erste. Dagegen schien niemand den vierten Song vorzuziehen, den Einzigen, bei dem wir richtig gespielt hatten. Wir hatten nicht den Mut, ihnen zu sagen, dass es alle vier Male das gleiche Stück gewesen war, nur in unterschiedlichen Stadien der Panik."

Jede Abwechslung im täglichen Einerlei wird in Vittula gerne aufgenommen, gerät allerdings leicht aus den Fugen, denn es ist eine karge Welt im hohen Norden und die Zerstreuungen sind dünn gesät. Beherrscht wird sie von schweigsamen Männern, "die lieber angeln als Geschlechtsverkehr zu treiben, die vierzehn Leinenknoten können, aber nur eine Beischlafstellung."

Ein wenig erinnert Mikael Niemis Kindheit in Schweden an Frank McCourts "Die Asche meiner Mutter." Nun warten die Leser gespannt auf eine Fortsetzung der Geschichte, denn die Jugenderlebnisse dieses begnadeten Erzählers sind mit Sicherheit nicht minder komisch.
manuela haselberger


Mikael Niemi - Populärmusik aus Vittula
Originaltitel: »Populärmusik från Vittula«, © 2000
Übersetzt von Christel Hildebrandt

© 2002, München, btb, 304 S., Neupreis 19.90 € (HC)





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PROLOG

Der Erzähler wacht auf, beginnt den Berg zu besteigen
und macht sich auf dem Thorong La-Pass lächerlich,
woraufhin die Erzählung ihren Laut nehmen kan
n.

Die Nacht in dem engen Bretterverschlag war saukalt. Als mein Reisewecker anfing zu piepsen, setzte ich mich mit einem Ruck auf, knüpfte das kleine Gesichtsfenster im Schlafsack auf und schob einen Arm in die kohlrabenschwarze Finsternis hinaus. Meine Finger tasteten in dem kalten Luftzug, der durch die Bretterritzen drang, zwischen Splittern und Sandkörnern immer weiter über die ungehobelten Bodenbretter, bis sie das kalte Plastik des Weckers und den Knopf zum Ausstellen fanden.

Eine Weile blieb ich still liegen, halb betäubt, mich an einem Baumstamm festklammernd, einen Arm ins Meer getaucht. Stille. Kälte. Kurze Atemzüge in der dünnen Luft. Im Körper spürte ich einen physischen Schmerz, als hätte ich die ganze Nacht mit angespannten Muskeln dagelegen.

Genau in diesem Moment sah ich ein, dass ich tot war. Das Erlebnis ist schwer zu beschreiben. Es war, als würde der Körper entleert. Ich wurde zu Stein, zu einem unendlich großen, nasskalten Meteoriten. Und eingebettet tief in diesem Hohlraum lag etwas Fremdes, etwas Längliches, Weiches, Organisches. Eine Männerleiche. Sie gehörte nicht zu mir. Ich war aus Stein, ich umschloss nur diese erkaltete Gestalt wie ein riesiger, fest geschlossener Granitsarkophag.

Es dauerte zwei, höchstens drei Sekunden.
Dann knipste ich meine Taschenlampe an. Das Ziffernblatt des Weckers zeigte Null und Null. Einen unheimlichen Moment lang befürchtete ich, dass die Zeit still stehe, dass sie nicht länger gemessen werden könnte. Dann aber wurde mir klar, dass es mir gelungen war, die Uhr auf Null zu stellen, als ich nach dem Aus-Knopf suchte. Meine Armbanduhr zeigte zwanzig Minuten nach vier in der Früh. Um das Atemloch des Schlafsacks hatte sich eine dünne Schicht Raureif gebildet. Es herrschten Minusgrade, obwohl ich mich drinnen befand. Ich wappnete mich gegen die Kälte und schlängelte mich vollkommen angezogen aus dem Schlafsack, und schob dann meine Füße in die eiskalten Wanderstiefel. Mit leichtem Unbehagen verstaute ich mein leeres Schreibheft im Rucksack. Auch heute nichts. Kein Entwurf, nicht die kleinste Notiz.

Den Metallhaken der Tür geöffnet und hinaus in die Nacht. Der Sternenhimmel breitete seine Unendlichkeit aus. Eine Mondsichel schaukelte wie ein Ruderboot am Horizont, die Riesen des Himalaja ließen sich in alle Richtungen als spitze Silhouetten erahnen. Das Sternen-licht war so stark, dass es förmlich den Boden begoss, scharfe weiße Strahlen durch ein riesenhaftes Sieb rinnen ließ. Ich warf mir den Rucksack über, und schon diese kleine Anstrengung brachte mich zum Keuchen.

Der Sauerstoffmangel ließ kleine Sternchen vor meinen Augen tanzen. Der Höhenhusten presste sich durch meine Kehle, trockenes Bellen, 4400 Meter über dem Meeresspiegel. Vor mir konnte ich den Pfad erkennen, der steil die steinige Bergwand hinauflief, bis er in der Dunkelheit verschwand. Langsam, ganz langsam begann ich zu klettern.

Der Thorong La-Pass, im Annapurnamassiv in Nepal. Höhe. 5415 Meter. Ich habe es geschafft. Endlich bin ich oben! Die Erleichterung ist so groß, dass ich mich auf den Rücken fallen lasse und nur noch keuche. Die Beine brennen vor Muskelkater, der Kopf pocht und schmerzt im ersten Stadium der Höhenkrankheit. Das Tageslicht ist beunruhigend gescheckt. Ein plötzlicher Windstoß kündigt schlechteres Wetter an. Die Kälte beißt in die Wangen, und ich sehe, wie eine Hand voll Bergsteiger eilig ihre Rucksäcke schultert und den Abstieg nach Muktinath beginnt.

Ich bleibe allein zurück. Kann es nicht über mich bringen, einfach so zu gehen, noch nicht. Immer noch außer Atem setze ich mich auf. Stütze mich an der Gipfelmarkierung mit ihren flatternden tibetanischen GebetswimpeIn ab. Der Pass besteht nur aus Felsen, ein steriler Kiesgrat ohne jede Vegetation. Auf beiden Seiten steigen die Gipfel empor, schwarze, raue Fassaden mit himmelweißen Gletschern.

Die ersten Schneeflocken peitschen in Windböen gegen die Jacke. Weniger schön. Wenn der Weg wieder einschneit, wird es gefährlich. Ich spähe nach hinten, aber es sind keine weiteren Wanderer mehr zu sehen. Ich sollte schauen, dass ich nach unten komme. S. 5-7


Lesezitat nach Mikael Niemi - Populärmusik aus Vittula










© 28.11.2002
by Manuela Haselberger

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