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Buchtitel im Literarischen Quartett


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1. DER HUND

Der Nachthimmel, der ganz frei von Wolken war, wies in der Ferne, über Ostberlin, schon einen hellen Schimmer auf, als Frank Lehmann, den sie neuerdings nur noch Herr Lehmann nannten, weil sich herumgesprochen hatte, daß er bald dreißig Jahre alt werden würde, quer über den Lausitzer Platz nach Hause ging. Er war müde und abgestumpft, er kam von der Arbeit im Einfall, einer Kneipe in der Wiener Straße, und es war spät geworden. Das war kein guter Abend, dachte Herr Lehmann, als er von der westlichen Seite her den Lausitzer Platz betrat, mit Erwin zu arbeiten macht keinen Spaß, dachte er, Erwin ist ein Idiot, alle Kneipenbesitzer sind Idioten, dachte Herr Lehmann, als er an der großen, den ganzen Platz beherrschenden Kirche vorbeikam. Ich hätte die Schnäpse nicht trinken sollen, dachte Herr Lehmann, Erwin hin, Erwin her, ich hätte sie nicht trinken sollen, dachte er, als sich sein Blick zerstreut in den Maschen der hohen Umzäunung des Bolzplatzes verfing. Er ging nicht schnell, die Beine waren ihm schwer von der Arbeit und vom Alkohol. Das mit dem Schnaps war Quatsch, dachte Herr Lehmann, Tequila und Fernet, morgen früh wird es mir schlecht gehen, dachte er, Arbeiten und Schnapstrinken verträgt sich nicht, alles, was über Bier hinausgeht, ist falsch, dachte er, und gerade ein Typ wie Erwin sollte ... S. 5

"Warum nicht? Warum nicht? Weil es sich nicht gehört", griff Herr Lehmann zum Äußersten. "Wenn du" -Herr Lehmann bemerkte mit Erleichterung, daß mit Hilfe von Adrenalin und Disziplin seine gewohnte Eloquenz zurückkehrte - "selber sagst, daß es sich etwa nicht gehört, Mutter, daß man mit vollem Mund spricht, selbst dann nicht, wenn man um ein Gespräch nicht gebeten hat, sondern nur mit Hilfe zigfachen Klingelns aus dem Schlaf gerissen wurde, einem durch Arbeit im Schweiße seines Angesichts wohlverdienten Schlaf, wie ich noch anmerken möchte, wenn du also sagst, daß sich ebendies nicht gehört, wie kannst du dann in Gottes Namen davon ausgehen, daß es in Ordnung sei, jemanden, der nachts sein Geld verdient, der die ganze Nacht, die ganze gottverdammte Nacht arbeitet, um sein Brot sauer zu verdienen, wenn ich das mal so sagen darf, so jemanden also aus dem Schlaf zu reißen, stumpf hundertmal das Telefon klingeln zu lassen, obwohl einem dann klar sein muß, daß derjenige entweder nicht da ist oder schläft, wie also kannst du davon ausgehen, daß sich so etwas gehört? Ganz zu schweigen davon, daß, wenn du die Frage, warum du um sieben Uhr aufstehst, mehr als schlicht mit den Worten >warum nicht< beantwortest, sich natürlich auch umgekehrt die Frage stellt, warum du dich darüber wunderst, daß ich um zehn Uhr noch schlafe, wo doch die Frage, warum ich das tue, ebenso leicht mit der Antwort >warum nicht< beantwortet werden könnte, wenn das überhaupt eine Antwort ist und nicht etwa eine völlig unzulässige Gegenfrage! "

So, dachte Herr Lehmann, das mußte einmal gesagt werden. Wobei es ihm andererseits jetzt, wo er ein bißchen aufgewacht war und seinem Ärger in einer längeren Rede ... S. 24


Lesezitat nach Sven Regener - Herr Lehmann


Ein Langweiler erlebt die Wende
Sven Regener - Herr Lehmann

ven Regener ist in der Musikszene mit seiner Gruppe "Element of Crime" als Sänger und Texter bisher bekannter als in der Welt des Buches. Sein Debütroman "Herr Lehmann" sorgt für Furore, da er sofort nach Erscheinen im Literarischen Quartett die Weihen der Literatur erhält.

Herr Lehmann, die Hauptfigur des Romans, lebt in Westberlin, jobbt abends in der Kneipe und seit er kurz davor ist seinen dreißigsten Geburtstag zu feiern, wird er von seinen Freunden nicht mehr Frank, sondern nur noch Herr Lehmann genannt. Sein Leben ist eher fad, es bewegt sich zwischen Tresen und dem Bett. Lehmann selbst hat ein sehr distanziertes Verhältnis zu seiner Umwelt. Als er sich in die Köchin Kathrin verliebt, scheint ein wenig Schwung in sein tägliches Einerlei zu kommen. Auch der Besuch seiner Eltern steht an. Doch die Abwechslung ist nur geringfügig. Sogar die Wende im Herbst 1989 geht an Lehmann nahezu spurlos vorbei.

Sven Regeners Roman besteht fast ausschließlich aus Dialogen. Doch es ist häufig nichts sagendes Geplänkel, das seine Figuren miteinander austauschen. Bei Kathrin versucht Frank einen eher philosophischen, grundsätzlichen Ton anzuschlagen, doch auch der misslingt. "Ich weigere mich zu wissen, was gemeint ist, wenn man mir die Dinge, die mein Leben betreffen, madig machen will, ohne dass man darüber nachdenkt, was man eigentlich sagt." Genau dieses Element durchzieht den gesamten Roman. Es wird viel zu wenig nachgedacht, bevor überhaupt geredet wird. So häuft sich leeres Gerede, um eine handlungsarme Story und der Leser fragt sich immer häufiger, wozu er diese blutleere Geschichte weiter verfolgen soll.

Es zeigt sich mehr als deutlich: Nicht jeder Newcomer auf dem deutschen Buchmarkt, der so wie Kaminer und seine Freunde in Berlin lebt, ist ein Garant für hervorragende neue Romane.
© manuela haselberger

Sven Regener - Herr Lehmann

© 2001, Frankfurt, Eichborn Berlin, 299 S., 18.90 € (HC)
© 2003, München, Goldmann, 251 S., 8.90 € (TB)
© 2002, Roof music, 4 Audio CD, 25.90 € (CD)




      gebundenes Buch

      Taschenbuch

      4 Audio - CDs

PS:
Die Kritik in Deutschland sah Regeners Herrn Lehmann als sehr erfolgreiches Buch an. Es wurde u.a. mit dem internationalen Corine - Buchpreis 2002 ausgezeichnet
thomas haselberger


Musikinfos über Sven Regener und seine Gruppe element of crime
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"Aber bleiben wir ruhig beim Bild des Lebens als Gefäß", konnte er sich nicht bremsen. "Ein Gefäß, in das man etwas hineinfüllen muß, kann es so lange nicht sein, wie mir keiner sagen kann, was genau dieses Hineinzufüllende eigentlich sein soll. Dann kann man es nur noch anders herum sehen, wenn man an der Metapher festhalten will: Dann ist das Leben ein Gefäß, das man gefüllt hingestellt bekommt, und zwar gefüllt mit Zeit. Und in diesem Gefäß ist ein Loch drin und die Zeit fließt unten raus, so ist das nämlich, wenn man überhaupt von einem Gefäß sprechen will. Und Zeit, das ist das Blöde daran, kann man nicht nachfüllen. "
"Ich habe doch gar nicht von einem Gefäß gesprochen."
"Das ist doch jetzt mal eben egal", sagte Herr Lehmann. Romantisch ist das nicht, dachte er, romantisch ist was anderes. "Du hast mit Lebensinhalt angefangen. Und wenn man von Lebensinhalt spricht, dann muß man das auch zu Ende denken. So ein Wort will durchdacht sein. Was also hat die Tatsache, daß man in einer Kneipe arbeitet, mit Lebensinhalt zu tun? Das ist doch der letzte Scheiß, Lebensinhalt. Man lebt und erfreut sich dran, das reicht doch völlig. " Gleich steht sie auf und geht, dachte er, und dann habe ich's verkackt auf lange Zeit.

Die schöne Köchin wirkte aber nicht verärgert, eher erstaunt. "Mein Gott, wie kann man sich über ein einzelnes Wort so aufregen. Ist doch egal, ob ich Lebensinhalt sage oder was anderes, du weißt doch, was gemeint ist."
"Nein, weiß ich nicht. Ich weigere mich zu wissen, was gemeint ist, wenn man mir Dinge, die mein Leben betreffen, madig machen will, ohne daß man darüber nachdenkt, was man eigentlich sagt. "
"Jedenfalls ist das kein vernünftiger Beruf. Man kann doch nicht nur in einer Kneipe arbeiten."
"Aha! " Herr Lehmann reckte einen Zeigefinger in die Höhe und nahm ihn gleich wieder runter. Jetzt auch noch der Zeigefinger, dachte er, das wird ja immer schlimmer. S. 58-59

Es tat Herrn Lehmann gut, wieder mit seinem besten Freund zu arbeiten. Das hat mir gefehlt, dachte er, als er hinter dem Tresen stand und Karl dabei zusah, wie er, sein dickes Hinterteil in die Höhe streckend, Bierflaschen in die Kühlschublade einräumte. Die Schicht ließ sich normal an, es war nicht viel los, aber immerhin genug, um beiden die Möglichkeit zu geben, sich für den Trubel eines Freitagabends warmzulaufen. Das Angenehmste daran, mit Karl zu arbeiten, war immer ihr wortloses Einverständnis gewesen, was zu tun sei und wer es tun sollte, sie waren wie zwei aufeinander eingestellte Kolben eines Motors, und wenn sie zusammenarbeiteten, lief alles rund. So war es jedenfalls früher gewesen, und so schien es wieder zu sein, dabei war es schon zwei Jahre her, daß sie das letzte Mal gemeinsam hinter dem Tresen gestanden hatten. So sollte es mit Freunden sein, dachte Herr Lehmann, wenn man sie wiedersieht oder wieder mit ihnen arbeitet, nach egal wie langer Zeit, dann sollte es so sein, als sei gar keine Zeit vergangen, dachte er, während sie zusammen Bierflaschen öffneten, Milchkaffee aufschäumten und Schnäpse eingossen.

Nach zehn Uhr füllte sich der Laden, und da es Freitag abend war, mischten sich viele Wochenend- oder Amateurtrinker, wie Karl sie immer nannte, unter die üblichen Verdächtigen, sie waren durch die Aussicht auf das vor ihnen liegende Wochenende gehörig aufgekratzt und heilten die Stimmung mit ihrer fröhlichen Ausgelassenheit ziemlich auf, es mischte sich viel Scherzen und Lachen in die über allem liegende Krachmusik, die Klaus und Marko immer als Avantgarderock bezeichneten. Karl hatte sie eingeworfen, nachdem er die Kassetten mit der "Scheiße von Heiko", wie er es nannte, in der Küche in einem Kühlschrank versteckt hatte. Herr Lehmann hatte ihn gerade noch daran hindern können, sie in den Abfall zu werfen.
"Das kannst du nicht bringen", hatte Herr Lehmann gesagt, und er war zum ersten Mal an diesem Abend leicht irritiert gewesen. Es war nicht Karls Art, sich wegen Musik zu ereifern.
"Das ist doch Scheißkram."
"Wieso, du gehst doch auch dauernd ins Orbit, wo sie den Bummbummscheiß immer spielen. Erwin hat sogar gesagt, da liegt die Zukunft. " "Erwin hat keine Ahnung. Das ist nicht alles dasselbe, bloß weil es Bummbumm macht. Da gibt es so was und so was."
"Ja, aber die Tapes hat Heiko aufgenommen, die kannst du doch nicht einfach wegschmeißen."
"Scheiß auf Heiko. Das ist Rotz."
"Karl! Hör auf mit dem Scheiß." S. 202-203

Lesezitate nach Sven Regener - Herr Lehmann



© 29.07.2001by Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de