Lesezitat


<<   weitere Bücher   >>


Lesezitat

Sechsmal hielt sie den Zeigefinger Domino hin, sechsmal hielt sie ihn Jeannie hin und zählte mit und wechselte ab, weil sie wußte, Jeannie hätte es für ungerecht gehalten, wenn Domino sechsmal nacheinander den aus der Quarkschüssel auftauchenden Zeigefinger hätte ablecken dürfen, bis sie zum ersten Mal drangekommen wäre. Susi Gern genoß es, gerecht sein zu können. So hätte Mr. Warhol sie malen müssen. Frühstückend. Domino und Jeannie links und rechts vor ihr auf dem großen, runden, weißen Tisch. Edmunds Kommentar:

Wenn mir das einer gesagt hätte, Katzen auf deinem Frühstückstisch. Sie, von Anfang an: Meine Katzen dürfen alles. Sie hatte allerdings nicht von Anfang an Katzen gehabt. Erst als sie fünf oder sechs Jahre verheiratet gewesen waren, hatte sie angefangen, sich nach Katzen umzusehen. Um Edmund die Zustimmung zu erleichtern, hatte sie gesagt: Kinder brauchen Tiere. Conny durfte den Katzen Namen geben. Andreas interessierte sich für die Katzen so wenig wie Edmund. Daß ihre Katzen Kunstwerke waren, wußte nur sie. Wenn Edmund mit ihr frühstückte - also gar nicht mehr so oft, und sie hatte sich nicht nur daran gewöhnt, sie hatte es sogar genießen gelernt, ohne ihn zu frühstücken -, aber wenn er sich dann wieder einmal zur gleichen Zeit an den von ihm ausgesuchten Tisch setzte, dann ließ er sie das vorher wissen; und sie wußte, daß es besser sei, die Katzen den Quarkfinger lecken zu lassen, bevor Edmund ihr gegenüber Platz nahm. Edmund hat beim Frühstück zwar von Anfang an die Frankfurter vor dem Gesicht gehabt, aber er hat ihr, während er las, immer lieben Blödsinn zugerufen. Frühstück ist die schönste Jahreszeit. Dergleichen. Oder hat sich lustig gemacht darüber, daß bei ihr, angefangen von sechsmal den Finger hierhin und sechsmal dahin, bis zum fünffachen Süßstoff immer alles gleich ablaufe. Magerquark, Knäckebrot, Nescafé ohne Coffein, aber mit fünf Stückchen Süßstoff und Milch. Edmund brauchte jeden Tag ein anderes Frühstück. Es machte ihm Spaß, bei ihr zu bestellen. Ihr machte es Spaß, daß er in zweiunddreißig Ehejahren noch nie etwas bestellt hatte, was sie nicht vorrätig gehabt hätte. S. 9-10


Lesezitat aus Martin Walser - Der Lebenslauf der Liebe


Bookinists Buchtipp zu


Ein springender Brunnen

von Martin Walser




Liebes-(ver-)lauf
Martin Walser - Der Lebenslauf der Liebe

m Mittelpunkt des neuen Romans von Martin Walser steht eine Frau in mittleren Jahren mit einem ganz und gar gewöhnlichen Namen: Susi Gern. Ihren Alltag in der Ehe mit dem finanziell sehr erfolgreichen Rechtsanwalt Edmund schildert Walser im ersten Teil seines Buch unter dem Stichwort "Sonntagskind". Denn Susi ist ein echtes Sonntagskind. Sie beschäftigt in ihrer Penthouse - Wohnung in Düsseldorf vier Putzfrauen, kümmert sich intensiv um ihre Garderobe und ihr edles Schuhwerk. Ganze Nachmittage verbringt sie im Nagelstudio. Geld spielt für Susi keine Rolle.

Andererseits sorgt sie sich hingebungsvoll um ihre behinderte Tochter Conny und auch ihr Sohn Alexander, der sie pausenlos mit seinen eigenen Eheproblemen auf Trab hält, lässt sie nicht zur Ruhe kommen.

Susi selbst beschreibt sich als "nett, bieder, naiv, leichtfertig, leichtgläubig und nimmermüde." Vor allem ihrer Leichtgläubigkeit hat sie zu verdanken, dass sie nicht bemerkt, dass Edmund in den finanziellen Ruin steuert. Zu sehr war sie damit beschäftigt, die vielen Affären ihres Ehemanns zu verdauen, denn er hat aus seinen Liebschaften nie ein Geheimnis gemacht und auch Susi alle Freiheiten in ihrer Ehe zugebilligt.

Der finanzielle Ruin und Edmunds zusätzliche gesundheitliche Einschränkungen, er erkrankt an Parkinson und hat massive Prostata-Probleme, bestimmen den zweiten Teil des Romans, der mit "Glücksrad" überschrieben ist. Sehr detailliert schildert Walser Edmunds vollständigen gesundheitlichen und finanziellen Zusammenbruch. Die Bedingungen der Liebe, die in den Jahren zuvor noch von beiden Partnern bestimmt wurden, werden jetzt von äußeren Gegebenheiten diktiert.

Erst mit Frank Sinatras Song "Strangers in the Night", im letzten Romanteil, ist Susi in der Lage ihr Leben, nach Edmunds Tod, für sich neu zu ordnen und in die Hand zu nehmen.

"Der Lebenslauf der Liebe" ist gespickt mit unendlich vielen Alltagsbeobachtungen, das ist Walsers Stärke. Ebenso perfekt schlüpft er in die Rolle der Susi Gern, die er persönlich über viele Jahre kennt und die ihn durch die Trivialität ihrer Existenz beeindruckt, wie er in einem Interview ausführte. Doch die Schläge, die Susi in ihrem Leben parieren und verdauen muss, sind nicht ganz ohne und das wird von Walser überhaupt nicht trivial beschrieben. Ein Roman, der auch in einigen Jahren noch Bestand haben wird, da er sehr genau das Leben einer neureichen Generation skizziert, die den kompletten Absturz ihrer Existenz zu verkraften hat. © manuela haselberger

Martin Walser - Der Lebenslauf der Liebe

© 2001, Frankfurt, Suhrkamp, 525 S., 25.80 € (HC)
© 2003, Frankfurt, Suhrkamp, 525 S., 14.90 € (HC)
© 2003, DhV, Hörverlag, 10 CDs, 99.90 € (CD)




      gebundenes Buch

      Taschenbuch

      10 Audio - CDs



Lesezitat

Susi wollte nicht froh sein über des armen Herrn Pudlich Tod, obwohl sie, wenn er noch gelebt hätte, heute und morgen und übermorgen und solange Edmund unterwegs war, Herrn Pudlich Anrufen ausgesetzt gewesen wäre, seiner elend leisen Stimme und den quälend langsamen Sätzen. Immer wenn Heimchen Pudlich mit Edmund verreiste, mußte Susi Herrn Pudlichs Kontrollanrufe aushalten und Herrn Pudlich durch ebenso kühne wie konkrete Auskünfte von dem Verdacht erlösen, seine Frau sei womöglich mit seinem Wohltäter Gern unterwegs. Herr Pudlich wagte natürlich nie, direkt zu fragen, ob Edmund da sei und, wenn nicht, wo er denn gerade sei. Susi, die wußte, was Herr Pudlich brauchte, bediente ihn gleich mit einer Budapest-Reise, Herr Gern hat eine Schweineverarbeitungsfabrik, Tageskapazität tausend Schweine, zu finanzieren. Oder: Herr Gern ist in Kuwait, weiht dort eine Palastkühlanlage ein, daß die zwölf Frauen des Prinzen bei minus zwanzig Grad in den von den Sowjets geschenkten Schneetigerfellen herumspazieren können. Das waren immer Reisen, die wirklich aus Edmunds Reisekalender stammten, also eine unbezweifelbare Tatsächlichkeit ausstrahlten. Aber Susi wurde das Gefühl nicht los, Herr Pudlich wisse genau, daß seine Frau mit seinem Wohltäter in Baden-Baden oder in Ascona flanierte. Er mußte anrufen, Kontrollfragen stellen, aber eigentlich bat er Susi, ihn vor der Wahrheit zu schützen. Ging es ihr denn anders? Einerseits hatte Edmund, als er die Fundamentalbedingung ihrer Ehe gewürdigt hatte - nichts hinterm Rücken des anderen! -, die Unverbrüchlichkeit ihrer Ehe gefeiert - wenigstens die Wahrheit und nichts als die Wahrheit -, andererseits hatte sie sich oft genug gewünscht, es nicht wissen zu müssen, weil dann in ihrer Vorstellung alles ablief, was dort, wo er gerade war, ablief. Und trotzdem: es zu wissen, so weh es tat, war besser als die undurchsichtige Watte des Betrugs. Ist doch gar nicht wahr! Hin jetzt, quer durch die Flughafenhalle, denen Guten Flug ins Gesicht geschrieen und zurück in die Stadt, die Scheidung eingereicht ... Susi in Aufruhr: Du hast dich nie abgefunden, Blödesuse, du hast nur so getan, als ob. Schluß. Bleib. ´s iss, wie´s iss. Werde praktisch. Wenn Edsmund zurückkommt, erstes Thema: die Pudlich hat sich sofort nach einem Mann umzusehen. Vielleicht wird's ja einer, der es ihr nicht so leicht macht, mit Herrn Gern Kunstreisen zu machen wie ihr Dritter. Susi konnte verlangen, daß die Geliebten ihres Mannes feste Partnerschaften hatten. Der arme Herr Pudlich hat diese Funktion nicht ganz drei Jahre ausüben können. Edmund würde sich wehren. Hatte die Pudlich niemanden, war sie leichter zu disponieren. Er würde wieder schwören, daß er, sollte Susi etwas zustoßen, weder die Pudlich noch die Prellmann noch die Proll je ins Haus holen würde. Trotzdem, wenn eine von denen keinen Partner hatte, sah Susi die in Wartestellung. Die Pudlich, fünf Jahre jünger als Susi, die Prellmann sieben und die Edelnutte Proll einunddreißig Jahre jünger. Alle drei auf ganz unterschiedliche Weise weniger verausgabt als Susi. Susi fühlte sich, schon von innen her zerschlissen. Daß er keine von denen so liebt, wie er sie liebt, glaubt sie ihm. Sie reckte sich, streckte sich. Edmunds Offenheit ihr gegenüber; ihre Offenheit Edmund gegenüber; dieses Allessagenkönnen, das kann sie sich bei keiner dieser drei Frauen vorstellen. Aber daß Herr Pudlich tot ist, darf sie trotzdem nicht einfach hinnehmen. Ihr erster Satz am Mittwoch zu Edmund: Entweder du bringst das Heimchen sofort dazu, daß sie wieder mit einem zusammenlebt und den dann wieder mit dir betrügt, oder ich kündige den Vertrag. Ist doch klar; wenn sie alles schleifen läßt, ist ihr Mann in absehbarer Zeit umringt von einer Schar von Witwen, die nur noch Zeit für ihn haben und auf Susis Tod warten. Hätte die Pudlich besser auf ihren Mann aufgepaßt, würde der wahrscheinlich noch leben. In zermürbenden Telephonaten hatte Herr Pudlich ihr immer wieder geschildert, welche Fallen ihm das Schicksal schon gestellt hat. Als Galerist hat er antreten müssen gegen immer noch mehr Sprößlinge aus immer noch reicheren Häusern. Ob die verkaufen oder nicht verkaufen, die haben so viel Geld hinter sich, Verluste stecken die doch weg wie nichts. Und da erscheint Herr Gern und holt ihn raus. Bei Hüllencremer hat Pudlich nicht mehr getrunken. Und weil Edmund sein Retter war, hat er es sich nicht leisten können, in ihm seinen Feind zu sehen. S. 16-17

Schon bevor die beiden randscharfen Scheiben heute auftauchten, hatte sie gewußt, die waren verrutscht. Bis neun hatte sie noch Zeit. Sie mußte zum momentanen Zustand in ein Verhältnis der Zustimmung kommen. Der Billigung wenigstens. Susi Gern wollte glücklich sein, auch wenn sie unglücklich war. Siemußte glücklich sein, auch wenn sie unglücklich war Ich kann nur leben, wenn ich glücklich bin, Sagte sie einmal zu jemandem, dem sie ihr Leben aufsagte. S. 27

Da hatte er herausgelassen, daß das Geschäftliche in Rom am Neunzehnten und Zwanzigsten stattlinde. Montag und Dienstag, ob Susi etwas dagegen habe, wenn er schon am Sonnabend fliege, da er doch noch diese befreundete Familie besuchen wolle. Susi hatte nichts dagegen. Und gestern dann die wahre Wirklichkeit: die Pudlich kommt mit. Da hatte sie etwas dagegen. Er hat mit der Pudlich in die Zone zu fahren, nach Rom aber mit ihr.

Nein, Schnucke, niemals, du weißt, ich nehme der Pudlich ihre betulich schnörkelige Art nicht übel, ich habe sogar meine Freude an ihrer krausen Stilistik à la: Hach Mündchen, iß doch noch ein Kartöffelchen, aber zu diesem Freund kann ich nur dich mitbringen. Du weißt, wie heftig herzlich er dich grüßen läßt. Der will dich kennenlernen. Dich und nur dich. Und hat mir gerade wieder so geholfen. Edmund war aufgestanden, in seinem Zehenspitzengang hin und her gegangen. Wenn er die vorderen Fußhälften vor den Absätzen aufsetzte, war es ihm immer besonders ernst. Er kam fast ins Singen. Dieses ewig nicht glücken wollende Geschäft mit der Tschechischen Investitionsbank hat ins reine gebracht werden können, weil es dem Freund gelungen ist, den Prager Betonköpfen in perfektem Tschechisch beizubringen, daß sie die Druckerei in Offenbach, dieses Relikt des Sündenfalls von 1968, nur dann am deutschen Fiskus vorbei veräußern können, wenn sie die Kapital- in eine Personengesellschaft umwandeln. Du weißt nicht, Schnucke, wie viele Anwälte sich da schon Zähne dran ausgebissen haben. Und ich habe es jetzt mit des Freundes Hilfe geschafft. Jetzt muß, jetzt muß ich hin. Aber der will mich nur mit dir sehen oder nicht. Sie hatte - oh, du Blödesuse - noch gehofft, ihn daran erinnern zu können, daß er ihr Rom einmal versprochen gehabt hatte. Und jetzt kriegt die Pudlich Rom und sie kriegt die Zone! Die Pudlich habe doch eine solche Lust auf Paläste, Kuppeln und Säulen. Gut, hatte Susi nicht. Sie hätte hie und da eine Basilika in Kauf genommen: aber sie war scharf auf Bikinis und auf Schuhe, auf Tücher und auf Handtaschen. Schöne Sache, das war Rom für sie. Aber wie Edmund die Ostberlin-Nummer inszeniert, das ließ kein Geschrei mehr zu. Er hatte Friedenszwang erzwungen. Streit wäre ihr lieber gewesen. Schreistreit bis zum Heulen und Zähnefletschen. Eben bis er dann nicht mehr anders könnte, als seinen Erzsatz herauszubrüllen oder - noch wirksamer - plötzlich pianissimo zu flüstern: Ja, soll ich mir denn meinen Schwanz abschneiden. Das war wenigstens Klartext. Plötzlich war er zwischen ihren Knien gekniet und hatte mit einem Zeigefinger weitere Kringel auf ihren Schenkel gezeichnet. Susi hatte, nicht zum ersten Mal, gedacht: Wer etwas einsieht, ist verloren. Keine Angst, Susi, du siehst es nicht ein. Du tust nur so, als sähest du es ein. Du setzt es auf die Rechnung. Nichts wird vergessen, alles vergolten. Das kann die Scheiben wieder mit einander versöhnen. Ordnung. Nur Ordnung. Gerechtigkeit. Alles muß allem entsprechen.

Als wieder einmal bilanziert worden war; hatte Edmund gesagt, sie habe in den ersten Ehemonaten, immer bevor man mit einander geschlafen habe, zuerst ihre Hausschuhe ordentlich vors Bett gestellt, Schuhspitzen immer unters Bett zeigend. Das habe ihn immer richtig erschreckt. Andererseits hat er aber doch, als er ihr einmal beim Wäscheaufhängen zugesehen hatte, gesagt: Es ist eine Freude, dir beim Wäscheaufhängen zuzuschauen. Nur was von ganz alleine kommt, zählt.
Wenn du einmal klarsiehst, ist dir nicht mehr zu helfen.
Sie hält das Schlimmste nicht für möglich. Ihr alter Fehler.

Fahr hinauf jetzt, ruf Andreas an, und zwar so, daß die Oschatz es mitkriegt, wie du mit deinem Sohn telephonieren kannst. Die Scheiben waren, sie spürte es, auf dem Weg zur Übereinstimmung. Aber nachzuprüfen, ob es tatsächlich so sei, wagte sie nicht.

Ohne es zu wollen, griff sie nach dem einzigen Buch, das auf Edmunds gewaltigem Schreibtisch lag. J. D. Salinger. Hebt den Dachboden hoch, Zimmerleute. Weil das ein so komischer Titel war, schlug sie auf und las. Das war keines von den Balkonbüchern, die so hießen, weil Edmund sie auf der Terrasse im Liegestuhl las. Sie mußte die bei Schrobsdorff besorgen, mußte dort schildern, was für ein Mann das sei, der sich lesend entspannen wollte. Und das gelang ihr. Edmund war meistens zufrieden mit den Büchern, die sie brachte. Aber er kaufte auch selber Bücher. Dieses Buch mit dem komischen Titel hatte er selber gekauft. Sie schlug es auf, irgendwo, weil sie wußte, sie würde den Anfang nicht aushalten. Bücher fingen immer so an, wie nur Bücher anfangen. Anstatt daß da gleich stünde, um was es ging, sollte man zuerst mal ein Anfangsritual mitmachen. Mit Männern, ja. Aber nicht mit Büchern. Und sie hatte Glück. Da wurde eine Halsentzündung geschildert. Einer tastete mit zurückgerollter Zunge nach der schmerzenden Stelle. Ist es schon eine Halsentzündung oder könnte es noch Hypochondrie sein. Das kannte sie. Genau so kannte sie es. Sie mußte weiterlesen. Und zwar laut. Wenn sie nicht laut las, verschwamm, was sie las, schon während sie's las. Sie kriegte es nicht mit. Wenn sie laut las, spürte sie, sie hatte etwas davon, daß sie las. Sogar die Zeitung las sie laut oder wenigstens halblaut.

Einen hellen Schrei stieß sie aus, als sie las, wenn in ZEN-Klöstern ein Mönch einem anderen Mönch He zurufe, müsse der so Angerufene, ohne zu zögern, He zurückrufen. Das würde sie Conny vorlesen, weil doch Conny dieses plötzliche He-Rufen wildfremden Menschen gegenüber nicht lassen konnte. Und was da über Katzen drinstand. Der Autor mußte ein Katzenfreund sein. Während sie las, stellte sie sich vor, daß sie Edmund, falls der aus Rom doch noch einmal kurz anrufen sollte, erzählen würde, was sie alles entdeckt habe in dem Buch, das er auf seinem Schreibtisch liegen gelassen hatte. Las sie nur; um dann Edmund sagen zu können, sie habe das gelesen? Aber wohin sollte sie denn mit den Empfindungen, die sich in ihr bildeten, während sie las? Sie hätte, was sie empfand, am liebsten gleich ausgesprochen. Vor dem zuhörenden Edmund. Oder vor sonst jemandem. sie hatte jetzt so gern einen Menschen gehabt - am liebsten natürlich Edmund -, dem sie hätte sagen können, daß ihr dieser Schriftsteller so sympathisch sei, weil er einen spüren lasse, wie sympathisch es sich selber ist Die meisten Menschen trauen sich ja nicht zuzugeben, wie sympathisch sie sich selber sind. Susi fand es richtig befreiend, daß einer so deutlich merken läßt, wie sympathisch er sich ist. Sie war sich doch auch nichts als sympathisch. Aber sie hatte keine Gelegenheit, das andere merken zu lassen. Das hätte eigentlich noch dazu gehört. Aber daß die zwei Scheiben jetzt auf einander lagen, als seien sie eine einzige, das wußte sie. Danke, Herr Salinger.

Jetzt konnte sie nicht mehr weiterlesen. Auf und hinauf. Statt ihre zwei Frühstückskerzen und das Teelicht auszublasen und zu sagen: Jetzt darf der Tag beginnen, war sie davongerannt. Jetzt weiß sie, warum. Sie hatte ihr Gefühl fragen müssen, ob sie wieder annoncieren sollte oder nicht. Ihr Gefühl hatte geantwortet: Nein, nicht mehr annoncieren. Egal, was er tut.

Frau Oschatz, rief sie, ich komme, hören Sie, ich komme. Dann sah sie, Frau Oschatz hatte das Teelicht und die Kerzen gelöscht. Frau Oschatz dachte eben mit. S. 59-59

Xandra. Pappi und Mami seien noch immer nicht aufgestanden heute. Sie habe schon öfter geklopft und denen gesagt, wie spät es sei. Pappi habe gerufen, vor Sonnenuntergang könnten sie heute nicht aufstehen. Xandra könne, wenn sie wolle, ein Taxi nehmen und zur Oma fahren. Er könne Mami überhaupt nicht loslassen. Es gehe ihr nicht gut. Sobald er sie loslasse, rufe sie: Halt mich, halte mich fest. Schließlich fragte Xandra, ob sie kommen könne. Susi sagte: Aber ja, Xandraschätzchen, komm sofort. Dann mußte sie sich nicht Edmund vorstellen. Heute. Am Sonntag. Am Sonntagnachmittag, Sonntagabend, in Rom, im RAPHAELI; mit Heimchen Pudlich. Sich passend machen, da war die Pudlich groß drin. Die floß um Edmund herum wie heiße Seide. Harmoniesüchtig sei sie, sagte Herr Gern. Das bin ich auch, sagte Susi in den Raum. Ihre Sehnsucht: einem Mann so zusammen zu können, daß nur noch dieser Mann übrig blieb. Am liebsten ginge sie auf in einem anderen. Am liebsten macht sie sich zu eigen, was der denkt, wie der denkt. Am liebsten wäre sie überhaupt nicht sie selber. Alles so erleben wie der. Von sich erlöst zu werden. Für eine Zeit. Nachher die traurige Rückkehr in die eigene Person. Die sich nichts mehr glaubt. Oder alles glaubt. Kommt auf dasselbe heraus. Mach Schluß jetzt. Xandra kommt, sie wird dich retten. In letzter Zeit neigst du dazu, immer etwas zu befürchten. Eines Tages wirst du nur noch aus Befürchtungen bestehen. Befürchtest du. Leider sind ihre Befürchtungen alles andere als eingebildet. Am letzten Sonntag plötzlich dieses Zungenbrennen. Am Sonnabend steht in der Zeitung etwas über Zungenbrennen. Am Sonntag hat sie's. Am Montag auch. Am Dienstag zum Hautarzt. Diagnose: Pilzerkrankung. Salbe, Lutschtabletten, am Freitag ist es weg. Den Fleck an der Nasenwurzel hat er auch noch gleich weggelöffelt. Krebs. Das Schlimmste: Nicht mehr an die Sonne, nicht mehr ins Solarium. Vorerst. Aber als Weiße erträgt sie sich nicht. VierJahre Shankar; dreij Jahre Lotfi. Seitdem erträgt sie sich nur noch braungebrannt. Lieber Krebs als weiß. Das ist sicher. Andererseits ist es nicht nur unangenehm,nicht mehr ins Solarium zu dürfen. Sie haßt alles, was man nicht durch Konzentration und Eifer auch schneller tun kann. S. 77-78

Erziehen machte ihr Spaß. Mein Gott, was wäre aus Conny geworden, wenn sie nicht Tag und Nacht auf sie eingewirkt hätte, neunundzwanzig Jahre lang Nimmermüde, dachte sie. Sie fand, sie dürfe sich nimmermüde nennen. Nett, bieder, naiv, leichtfertig, leichtgläubig und nimmermüde, das war sie. Im Augenblick lagen die zwei Scheiben komplett über einander. Das spürte sie, ohne es nachprüfen zu müssen. S. 88

Jetzt merkte Susi, daß Theo Oschatz richtig zuhörte. Otti,je Oschatz hatte die Ellbogen auf dem Tisch, ihren schweren, breiten Kopf stützte sie unterm Kinn mit beiden Händen. Susi fühlte sich herausgefordert. Diese Frau hatte dies und das mitgekriegt, die hat sich längst ein Urteil gebildet über Herrn und Frau Gern, Susi hatte das Gefühl, eine Revision erreichen zu müssen.

Und, bitte, bedenken Sie, sagte Susi, in der Jugend habe ich immer geglaubt, wenn einer von mir wegging, jetzt sterb ich. Liebe hieß bei mir immer Für immer. Und Edmund sei vom ersten Augenblick an so maßgebend, so einnehmend, so bestimmend gewesen, daß alles, was er sagte, auch dann richtig sein mußte, wenn sie es nicht richtig gefunden habe. Edmund hatte studiert. Sie hatte sich sofort in Edmunds andauernd auffallendes Wissen verliebt. Edmund wußte noch mehr als ein Bekannter ihrer Mutter; der bisher mit seinem Wissen alle und alles beherrscht hatte. Edmund habe diesen Mann schon beim ersten Zusammentreffen praktisch zum Verstummen gebracht. Flink, leise, höflich, durchdringend. So sei Edmund aufgetreten. Und sie saß dabei und ließ alles über sich hinrieseln wie eine göttliche Dusche. Ja, wirklich. Von Anfang an. Einmal abends, bei Alf, einem Schüler ihres Vaters, es klingelte, in der Tür erschien dann mit Alf; deutlich kleiner als Alf; Edmund Gern. Aber mit Homburg und Schirm. Ihre Freunde seien bisher immer größer gewesen, eben Schaltvpen mit Fahrrad. Aber wie der Susi angeschaut habe! Einen verzehrenden Augenblick zu lang. Dann aber zu Alf: Ach, du hast Besuch, dann will ich nicht stören. Nein, bleib doch, sagt der. Susi hatte schon länger bemerkt, daß der Vater sich den vorgenommen haben mußte. Wenn der Vater mit ihren Freunden gesprochen hatte, berührten die Susi nicht einmal mehr an der Schulter. Einer hatte ihr einmal den entscheidenden Vatersatz weitergesagt: Du machst mit der gar nichts oder du heiratest sie. Dann hatte Herr Gern, der sie zuerst in all seiner Korrektheit an irgendeine Witzfigur erinnert hatte, gesagt, er müsse kurz noch einmal weg, ging, kam wieder mit einer Flasche Beaujolais, die hatte er in seinem Quartier, einen Kilometer weit weg, geholt. S. 117

Richtig aggressiv wurde das Cello, es tobte sogar; und der Musiker wurde seiner nicht Herr. Susi hätte hinunterrennen sollen, ihm beistehen. Aber das wagte sie dann doch nicht. Am Anfang war sie einmal hinuntergegangen zu dem und hatte gefragt, wie viele Stunden er täglich übe. Das hatte der nicht beantworten können. Er hatte ihr eine Freikarte fürs nächste Konzert angeboten. Susi lehnte dankend ab, sagte aber: Wir können alle ohne Musik nicht leben. Als Susi ging, sagte sie noch: Einfach die Lautstärke `n bißchen drosseln. Der hob die Schultern. Er müsse doch im Konzert auch laut spielen, also müsse er das Lautspielen auch üben. Susi sah, daß gegen das Cello nichts zu machen war. Die Hornisten klangen sanfter. Aber am Sonnabend malten die alle nur Susis Verlassenheit aus.

Natürlich mußte sie sich jetzt sagen, auch wenn Edmund noch lebte, er wäre nicht da. Was war besser: Er lebte noch und wäre nicht da, oder er ist nicht da, weil er tot ist? Sie konnte sich nicht entscheiden, das heißt, sie hätte am liebsten gedacht: Besser; er ist nicht da, weil er tot ist. Aber das wagte sie nicht. Das durfte sie sich nicht durchgehen lassen.

Sonnabend. Das Rinderherz in Würfel schneiden. Wenn Susi mit dem Stilett das Rinderherz zerschnitt, fuhr ihr immer noch eine Gänsehaut den Rücken hinab. Theo Oschatz hatte recht. Frauen bringen die Falschen um. Ottilie Oschatz war jetzt Theos Pflegefall. Ottilies Detlef kann einen an Edmund erinnern. Diese schmucklos direkte Art, auf Frauen zuzugehen. Das müssen doch Frauen mögen. Den Tierbändigerblick, den Cowboyschritt, statt Werbung die nackte Unwiderstehlichkeitstour. Ihre Frequenz war´s nicht. Blanck alias Hellhorn. Horoskop geht ja noch, aber Gotenbund! Sie würde gelegentlich Herrn Hellpapp von Herrn Hellhorn erzählen. An Herrn Hellpapp hatte sie immer weniger auszusetzen. Den durfte sie für einen feinen Mann halten. Ob er morgen anrief? Daß der 18. Oktober ihr Geburtstag ist, kann er mitgekriegt haben. Susi hat schon geträumt von ihm. Sie waren mit einander im Bett gelegen, dann kam Frau Oschatz herein mit dem Stilett. Aus der Traum. S. 362

Lesezitate aus Martin Walser - Der Lebenslauf der Liebe













weitere Titel von
Martin Walser:

Taschenbuch:


Ein fliehendes Pferd

© 1980


Ein fliehendes Pferd

© 1996, 3.Aufl.


Ein fliehendes Pferd
Lernmaterialien

© 2000


Ein fliehendes Pferd
Interpretationen

© 1996


Jensseits der Liebe

© 2000


Meßmers Gedanken

© 2002


Finks Krieg

© 1998

gebunden:


Halbzeit

© 1960

über Martin Walser:


Frank Almai, Walter Schmitz
Über Martin Walser

© 2001


Gerald A. Fetz
Martin Walser

© 1997

 Bookinists
 amazon shop

  hier klicken

© 25.7.2001 by
Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de