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Das weiße Buch des Vaters Urs Widmer - Das Buch des Vaters
achdem Urs Widmer in seinem Bestseller "Der Geliebte der Mutter" ein sehr feinfühliges Porträt seiner Mutter verfasst hat, wendet er sich nun dem Vater zu. Wie war er, der Mann an der Seite der Frau, die den Falschen geheiratet hat und zeitlebens ihrer großen Liebe nachtrauerte?
Karl Widmer wächst in einem kleinen Dorf in der Schweiz auf und ist fest mit den Traditionen verbunden. Seine Initiation in die Welt der Erwachsenen mit zwölf Jahren erinnert an archaisches Brauchtum: der Junge wird nackt in der Kirche ausgezogen, einer rituellen Waschung unterzogen, danach geht es ins Wirtshaus und der Alkohol fließt in Strömen, selbst die dörfliche Schönheit fehlt am späten Abend nicht auf dem Heuboden. An diesem denkwürdigen Tag erhält er das weiße Buch. Ein Buch, in dem jeder Dorfbewohner jeden Tag seines Lebens festhält. So ist es Sitte.
Zum jungen Mann herangewachsen bleibt Karl zeitlebens ein Träumer, der in der Welt der Bücher zu Hause ist. Voltaire, Diderot, Coster - er übersetzt sie alle aus dem Französischen. Täglich. Einen Tag ohne diese Arbeit, das ständige Feilen an Sätzen, kann er sich gar nicht vorstellen. Als er die reiche Clara Molinari heiratet, hofft er, dass er nun unbegrenzt seiner Leidenschaft für die schönen Künste frönen kann: Literatur und Musik. Selten kauft er weniger als zwei Schallplatten oder Bücher am Tag. Der Verdienst als Lehrer reicht für diese Eskapaden allerdings nicht. Und der Lohn für seine Übersetzungen ist dürftig. Streitereien sind vorprogrammiert.
Urs Widmer bleibt in seiner Schilderung des Lebens des Vaters sehr distanziert. Ein wenig bewegen sich die Eltern und der große Freundeskreis wie in einem Aquarium, oder einer naturwissenschaftlichen Versuchsanordnung, bei der die handelnden Personen durch Glasscheiben beobachtet werden. Manchmal sieht man sie aufeinanderzugehen, doch man hört keinen Ton. Reden sie gar nicht miteinander?
Für den Vater ist seine Familie Nebensache, Randfiguren, die sein Leben teilen, denen er aber wenig Aufmerksamkeit widmet. Den Schmerz seiner Frau, ihre unglückliche Liebe zum Dirigenten Edwin Schimmel, nimmt er überhaupt nicht wahr.
Nach dem Tod des Vaters ist sein weißes Buch, in das er sich jeden Abend vertieft hat verschwunden. Urs Widmer hat das Verlorengegangene noch einmal aufgeschrieben - mit analytischem Blick, sehr präzis und nicht verklärt. Entstanden ist dabei ein wunderbares Porträt eines Schöngeists, der in vielen literarischen Welten seine Heimat fand.
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© 12.2.2004 by Manuela Haselberger www.bookinist.de |