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»Mir bleibt wohl gar keine Wahl. Was wollen Sie von mir?«
»Es gibt Dinge, die Sie nicht wissen müssen.« Mrs. Van Andersen hatte sich umgedreht und fixierte ihren Mann. Was sie sagte, korrespondierte in keiner Weise mit ihrem Blick. »Wir haben Grund zu der Annahme, daß Elaine etwas vor uns verbirgt. Über sich selbst, ihre Vergangenheit. Wir haben Nachforschungen angestellt, die aber ergebnislos geblieben sind. Wir handeln nicht aus Neugier, müssen Sie wissen, und es handelt sich auch nicht um eine Indiskretion. Aber wir haben gemeinsame Interessen. Sollte sie als erste sterben, befürchten wir Überraschungen, was die Erbfolge angeht. Und wir gehen davon aus, daß sie den Wunsch haben könnte, sich Ihnen anzuvertrauen.«

Erik setzte ein breites Lächeln auf: »Es war May; die auf die Idee mit dem Atelier gekommen ist. Das ist ein sehr geschickter Weg. Sie könnten Ellie darum bitten, über sie schreiben zu dürfen. Sie darum bitten, sich Ihnen für das Schreiben eines Romans anzuvertrauen. Sie eindringlich bitten.« Voller Stolz darüber, daß es ihm gelungen war, eine raffinierte Idee zu erläutern, strahlte Erik. Juliette blickte sprachlos von einem zum anderen. Es entstand ein Schweigen, das die heitere Stimmung der Ehegatten verfliegen ließ. Ganz langsam drehte sich Mrs. Van Andersens Kopf. Mit gesenktem Blick verstärkte sie ihren Druck auf Juliettes Unterarm und wartete.

»Ich verstehe wirklich nicht. Warum? Und warum ich?«
»Also abgemacht, Juliette Nassandre.« Mays geschminkte Augenlider hoben sich. »Ein Studio, das Sie auch weiterhin bewohnen dürfen, selbst wenn Sie nicht mehr bei der Stiftung arbeiten sollten. Und ein Stipendium für ein einjähriges Studium in Harvard. Als Gegenleistung dafür nur ein Bericht. Selbst wenn er unbrauchbar ist. Selbst wenn er nichts enthält. Was aber nicht der Fall sein wird, davon bin ich überzeugt.«

Juliette blickte auf ihre Füße. Sie trug noch immer die schmutzigen Tennisschuhe, in die sie am Morgen geschlüpft war, und ....
S. 61


Lesezitat nach Julie Wolkenstein - Juliette oder Das falsche Leben


Juliette oder Das falsche Leben
Julie Wolkenstein - Juliette oder Das falsche Leben

us einer Laune heraus bewirbt sich Juliette bei der Stiftung Pernaud-Saint-John um ein Stipendium in Paris. Sie wird genommen und ist überrascht, als sie die Aufgabe erhält, die Biografie der außerordentlich wohlhabenden Stiftungsgründerin Hélène Saint -John zu verfassen. Hélènes Angehörige haben den Verdacht, dass ihnen von ihr etwas verschwiegen wird, dass sie ein Geheimnis verbirgt und sie vielleicht in der Erbfolge benachteiligt werden. Es geht um eine große Erbschaft und deshalb ist auch Juliettes Entlohnung fürstlich. Ein Studio, das sie auch nach Ende des Stipendiums nutzen darf, sowie ein einjähriges Studium in Harvard winken ihr.

Doch keiner hat mit der Schlauheit Hélènes gerechnet. Sie ist durchtrieben und durchschaut das abgekartete Spiel. Sie beginnt Juliette ihre Memoiren zu diktieren, mit einem äußerst überraschenden Ende.

In ihrer Heimat Frankreich wurde Julie Wolkenstein für ihren Erstling "Juliette oder das falsche Leben" von der Presse in den Himmel gehoben. Ihre Coolness, mit der sie das großstädtische Leben der 80er-Jahre in Paris beschreibt, das für ihre Hauptperson Juliette hauptsächlich aus Party, Sex und Drogen besteht, ihre raffinierte doppelbödige Romankonstruktion erzeugten rückhaltlose Bewunderung. Allerdings, das soll nicht verschwiegen werden, führt dieser kühle Roman, der direkt aus dem Gefrierschrank zu kommen scheint, und keinerlei Nähe zu den handelnden Personen aufkommen lässt, beim Leser zu einer stark distanzierten Haltung, die sich manchmal bis zur Gleichgültigkeit steigert. © manuela haselberger


Julie Wolkenstein - Juliette oder Das falsche Leben
Originaltitel: Juliette ou la Pareseusse, 1999
Übersetzt von Hans-Joachim Maass
© 2001, München, dtv Verlag, 196 S., 12 €


Fortsetzung des Lesezitats ...

Prolog

Juli 1992

Sie war schon seit neun Tagen tot, als mein Schwiegervater mich anrief. Er hatte sich von Roissy direkt ins Büro begeben und die Lektüre der Ausgaben des >Figaro<, um die ihn eine zweiwöchige Abwesenheit gebracht hatte, sofort in Angriff genommen. Allein die Qualität des >Carnet mondain<, der Gesellschaftsnachrichten, rechtfertigte diese Vorliebe und seinen skeptischen Respekt vor der linken Presse. Dieses Interesse, das er mir zum ersten Mal entgegenbrachte, seit ich vor einem Jahr seinen Sohn geheiratet hatte, hatte ich der Tatsache zu verdanken, daß er mich mit seiner Lieblingslektüre hatte in Verbindung bringen können. » >Madame Richard Saint-John, geborene Helene Pernaud. ist in ihrem vierundsiebzigsten Lebensjahr gestorben... nach längerer Krankheit ... ihren Sohn David (hat mir doch davon erzählt, nicht wahr? Verheiratet mit der Tochter oder der Nichte Montaigu?>... ihre Enkelin Catherine .. im engsten Familienkreis (mir ist nicht klar, wie sie die wichtigsten Leute von Saint-John, Saint-John und Co. haben auslassen können) ... am 30. Juni 1992 in Couberville-sur-Mer.< Hrn. Wie dem auch sei, ich nehme an, daß du nicht mehr ausgehst. Zwei Spalten Todesanzeigen, drei Hochzeiten, eine Geburt. Schlechte Jahreszeit, der Sommer.«

Seit einer Woche hatte ich vor mich hin gedöst und die Decke angestarrt. Mein Bauch hat in konzentrierter Erwartung verkrampft die Viertelstunden abgezählt. Als ich auflegte, kam der Schmerz - oder eher ein Versprechen von Schmerz, endlich.

Als ich in der folgenden Nacht in dem heißen Halbdunkel vom Schnarchen meiner Nachbarin und dem gedämpften Lachen der Krankenpflegerinnen hinter der Wand in den Schlaf gewiegt wurde, hatte ich einen Traum. Ich sah sie alle, wie sie sich in der scharfen Helligkeit von Westen her um den lockeren Erdhügel gruppiert hatten. Das Meer hinter ihnen war wegen der Ebbe zurückgewichen, und der ganze Strand, diese wenigen Hektar Schlick, die es unbedeckt gelassen hatte, zitterte und wimmerte von Toten in Leichentüchern; David stand der Grabsäule gegenüber und hielt ein kleines Mädchen an der Hand - ohne Zweifel seine Tochter Catherine; sie wandten mir den Rücken zu; in ihrer Nähe Gabrielle, zu drei Vierteln sichtbar; diese schien zu sprechen, ohne daß ihr ein Ton über die Lippen kam; die Szene war übrigens stumm; plötzlich bewegte sich die Erde, Staubschleier sprudelten daraus hervor wie die Wasserfontäne aus dem Blasloch im Kopf eines Wals; ein Krater bohrte sich von innen ins Grab, etwa einen Meter von David entfernt; das kleine Mädchen wandte sich zu mir um, und ich schaute in das Gesicht einer Greisin. Blutgerinnsel strömten in das zu hohe Gras zwischen den schwarzen Schuhen; aus der schrnutzigen Höhlung kroch mit einer letzten Anstrengung, noch am Leben erhalten durch die makabre Parodie einer Nabelschnur, ein Neugeborenes, das ohne Stimme schrie.

Als ich bei Sonnenaufgang die Augen aufschlug, drehte ich den Kopf zu dem durchsichtigen Säuglingsbettchen aus Kunststoff und begegnete zum ersten Mal dem Blick meines Sohnes.
S. 5-6

Lesezitate nach Julie Wolkenstein - Juliette oder Das falsche Leben


© 16.1.2002 by
Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de