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Fortsetzung der Lesezitate ...

Meine ersten Erinnerungen reichen nach Neuilly in Frankreich zurück. Mein Vater hat ein Haus am Rande des Bois de Boulogne gemietet, und ich suche Käfer im Garten. Wir schreiben Anfang der Sechzigerjahre, ich bin zwei1 drei Jahre alt. Im Kindergarten spreche ich französisch, zu Hause höre ich alle Sprachen der Welt, je nachdem, wen meine Eltern gerade zu Gast haben. Und die Gäste sind zahlreich; mein Vater ist damals stellvertretender Direktor der UNESCO.

Meine ältere Schwester Astrid und ich sind umhätschelte, geliebte Kinder, Kinder eines kultivierten Paares, das in der Pariser Kulturwelt ein und aus geht und von vielen durchreisenden Künstlern besucht wird. Mein Vater ist weit über vierzig und bereits Bildungsminister in Kolumbien gewesen, und man munkelte damals in der Ministerialbürokratie, er könne eines Tages Präsident der Republik werden. Meine Mutter ist erst fünfundzwanzig Jahre alt, vor meiner Geburt ist sie in Bogotá mehrfach zur Schönheitskönigin gewählt worden, aber bekannter ist sie in Kolumbien auf Grund ihrer Arbeit für die Straßenkinder. Nachdem sie sich Zugang zum Justizminister erzwungen hatte, schaffte sie es dank der bescheidenen Berühmtheit, die sie durch ihre Schönheit erlangt hatte, dass man ihr mitten in Bogotá ein leer stehendes Gefängnis zur Verfügung stellte, und sie begann damit, in diesem Gebäude die Kinder unterzubringen, die unter den Brücken schliefen.

Die Begeisterung die sie beide für Kinder und Jugendliche aufbringen, hat bei der Begegnung meiner Eltern eine große Rolle gespielt. Gabriel Betancourt ist passionierter Bildungsminister und noch ledig, als er zufällig Yolanda Pulecio über den Weg läuft, von der man so viel spricht, weil sie in diesem berühmten Gefängnis das erste Kinderasyl, den Albergue, eröffnet hat und jetzt nach weiteren Unterbringungsmöglichkeiten sucht.

Der Minister hat damals gerade das erste System der Bildungsförderung in Form von Krediten ins Leben gerufen, das es jungen Leuten erlaubt, zum Studium ins Ausland zu gehen. Während sich Yolanda Pulecio für die Bedürftigsten einsetzt, arbeitet Gabriel Betancourt an seinem großen Lebenswerk: dem Zugang der kolumbianischen Jugend zur Kultur, zu allem, was sich jenseits unserer Grenzen abspielt und erlembar ist.

Meine Eltern heiraten Ende der Fünfzigerjahre Astrid kommt 1960 zur Welt und ich im darauffolgenden Jahr. Unmittelbar nach meiner Geburt zieht die Familie für einige Monate nach Washington. Mein Vater tritt einer von Präsident Kennedy gegründeten Gruppe bei, die zugunsten der Entwicklung Lateinamerikas eine Allianz für den Fortschritt bilden soll. Er wird zum Präsidenten der Bildungskommission ernannt. Die Ermordung Kennedys setzt dieser Initiative ein Ende, was meinen Vater untröstlich macht. Unmittelbar danach wird er in die UNESCO berufen, und wir lassen uns in Neuilly nieder. In meiner Erinnerung sind meine Eltern extrem beschäftigt, verstehen es aber immer wieder, sich dem Trubel zu entziehen, uns auf den Schoß zu nehmen und unsere Fragen zu beantworten oder uns eine Geschichte vorzulesen. Mein Vater hört zu, lächelt, nimmt sich die Zeit für Erklärungen, aber er spielt nicht mit uns: "Ich bin zu alt zum Spielen, aber ich kann dir ein Buch vorlesen. Such dir eins aus. Er ist groß und stark, hat eine klare Stirn, braune Haare, die fest am Kopf anliegen. Er trägt eine Brille mit dickem Horngestell, doch die Strenge in seinem Gesicht wird sofort gemildert, wenn er lächelt. Papas Lächeln! ... Das Wohlwollen der ganzen Welt auf unseren Kinderköpfen. Meine Mutter spielt gern mit uns. Sie ist spontan, sensibel, aktiv. Eine Mischung aus Audrey Hepburn und Sophia Loren. Mama ist voller Sonnenschein, Lebenslust und Wärme, die sie mit anderen teilt, sie kann ihre italienische Herkunft nicht verbergen.

Um ihren Mann nach Paris zu begleiten, muss sie den Albergue dem Team überlassen, das sie in Bogotá zusammengestellt hat, aber sie nutzt diese Jahre in Paris, um sich die französische Kinderfürsorge anzusehen. Sie führt zahllose Beratungsgespräche, und die Position meines Vaters trägt dazu bei, ihr die Türen zu öffnen. Frankreich ist damals mit der massiven Einwanderung von Pieds-noirs konfrontiert, die im Zuge der Unabhängigkeit aus Algerien verjagt worden sind, und meine Mutter sieht darin eine Ähnlichkeit mit dem Zustrom der armen Bauernfamilien nach Bogotá, die auf Grund von Elend oder Gewalt oder beidem vom Land vertrieben worden sind. Die Kinder dieser Familien hat sie halb verhungert vom Bürgersteig aufgelesen. Wie kommt Frankreich mit der Integration dieser Pieds-noirs hinsichtlich Wohnung, Erziehung, der Schaffung von Arbeitsplätzen und diverser Subventionen zurecht? Meine Mutter hört zu, beobachtet, macht tausenderlei Notizen und entwirft Pläne, während sie auf ihre Rückkehr wartet, um aus dem Albergue das zu machen, was er heute ist: die bekannteste Kinder-Hilfsorganisation der kolumbianischen Hauptstadt.
S. 21-23
Lesezitate nach Ingrid Betancourt - Die Wut in meinem Herzen


Kolumbiens erste Präsidentin?
Ingrid Betancourt - Die Wut in meinem Herzen

ie Politik und das soziale Engagement wurden Ingrid Betancourt schon in die Wiege gelegt. Ihr Vater war ehemaliger kolumbianischer Bildungsminister und das Herz ihrer Mutter schlägt für die obdachlosen Straßenkinder der Hauptstadt Bogotá.

Ingrid Betancourts Kindheit bewegt sich zwischen Paris und Bogotá. Doch da ihre Eltern ein offenes Haus führen, lernt sie in Paris Pablo Neruda und auch Gabríel Maria Márquez, den kolumbianischen Literatur-Nobelpreisträger, kennen. Mit Neruda verbindet sie eine besondere Zuneigung, die beiden tauschen ganz unbefangen ihre Gedichte aus. Erst viel später erfährt sie, dass auch er mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde.

Das Politikstudium, eine frühe Ehe und zwei Kinder halten Ingrid Betancourt auf Trab, doch die Sehnsucht nach ihrer Heimat Kolumbien lässt sich auf Dauer nicht unterdrücken und so verlässt sie in Los Angeles ihren Mann und die beiden Kinder, um nach Bogotá zurückzukehren. Alles was sie sicher weiß ist, dass sie ihr Land verändern möchte und das ist nur zu schaffen, wenn sie politischen Einfluss ausüben kann. Dies wiederum geht nicht ohne einen Sitz im Parlament.

Dank ihrer geraden und aufrechten Linie, die erbarmungslos die Korruption anprangert und die Schuldigen auch furchtlos beim Namen nennt, gelingt ihr ein frappierender Aufstieg. Mit ihrer eigene Partei "Oxygen" schafft sie sogar der Sprung ins Parlament. Im Mai 2002 sind die nächsten Präsidentschaftswahlen und Ingrid Betancourt hat sehr gute Chancen, die Wahl zu gewinnen.

Der Preis, den sie dafür zahlt ist hoch. Ihre Kinder befinden sich in Auckland bei ihrem Vater seitdem sie mit Mordanschlägen bedroht wurden und auch für sie selbst ist ein Leben ohne Leibwächter nicht mehr denkbar. Seit einiger Zeit nehmen die unverhüllten Morddrohungen zu. Mächtige Kreise in Kolumbien haben kein Interesse daran, dass diese mutige Frau Präsidentin dieses Landes wird.

Ihre Aufzeichnungen "Die Wut in meinem Herzen" sind zu einem kleinen Teil Kindheitserinnerungen, doch vor allem ist es die Beschreibung des Beginns ihrer politischen Arbeit und eine schonungslose Abrechnung im Kampf mit korrupten Politikern ihres Landes. "Das Wesentliche ist diese Beherrschung aller Institutionen einer Nation durch die Mafia: vom Parlament, der Brutstätte der Gesetze, über die Justiz und die Polizei, die den Auftrag haben, für die Respektierung dieser Gesetze zu sorgen." Ein schweres Unterfangen, dem aller Erfolg zu wünschen ist.
© manuela haselberger


Ingrid Betancourt - Die Wut in meinem Herzen
Originaltitel: La Rage au Coeur, © 2001
Übersetzt von Christiane Filius-Jehne

© 2002, München, List, 255 S., 19 € (HC)


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Am Samstag 23.2.2002 wurde Ingrid Betancourt von einer Gruppe der Guerillabewegung Farc entführt, als sie allen Warnungen zum Trotz in ein gerade von Regierungstruppen erobertes Guerillagebiet reiste, um dort eine spektakuläre Wahlkampfkundgebung abzuhalten.

Der amerikanischen Verlag Harper Collins bittet um internationale Solidarität, »um Schlimmeres zu verhüten und die möglichst baldige Freilassung von Ingrid Betancourt zu erwirken«. Dabei setzt der Verlag in erster Linie auf die Macht der Presse, bittet aber auch um eine Solidaritätsbekundung an die Email-Adresse ingridporlapaz@hotmail.com (Stichwort: „Ingrid for peace“), die Freunde der gekidnappten Präsidentschaftskandatin in Miami eingerichtet haben.

Alle eingegangenen Emails sollen an die kolumbianische Regierung weiter geleitet werden, die sich aktuellen Pressemeldungen zufolge weigert auf die Forderungen der Entführer einzugehen.


Lesezitate

Dezember 1996. In wenigen Tagen beginnen die Ferien, die Parlamentssaison neigt sich ihrem Ende zu. Häufiger noch als sonst renne ich zwischen meinem Büro, wo ein Termin den anderen jagt, und dem Halbrund des Plenarsaals, wo ich an den Sitzungen teilnehmen muss, der Zeit hinterher. Ich bin fünfunddreißig Jahre alt und seit zwei Jahren Abgeordnete. Gegen 15 Uhr 30 - ich bin mitten in einem Gespräch - öffnet meine Sekretärin die Tür einen Spalt.
»Da ist jemand, der Sie dringend sprechen will, Ingrid. Ein Mann...«
»Hat er einen Termin?«
»Nein. Aber er lässt nicht locker.«
Die Debatte im Abgeordnetenhaus beginnt um 16 Uhr. Ich überlege einen Moment.
»Gut, sag ihm, ich empfange ihn direkt nach meinem jetzigen Besuch, aber ich habe nur eine Viertelstunde, tut mir leid.«

Ein eleganter Mann betritt das Zimmer. Er ist in den Vierzigern, von mittlerer Größe, weder gut aussehend noch hässlich, sodass ich später nicht in der Lage bin, ihn zu beschreiben, zu identifizieren. »Setzen Sie sich bitte.«
»Danke. Wir beobachten Sie aufmerksam, Doctora, wir haben große Hochachtung für das, was Sie tun ...«
Wir lächeln uns an. Ich sitze mit gestrafftem Oberkörper an der anderen Seite des Schreibtischs, der uns trennt, und habe die Ellbogen aufgestützt; wahrscheinlich hat er ein Gesuch vorzubringen, wie die meisten, die zu mir kommen.

»Deshalb wollte ich Sie auch sprechen, Doctora, wir machen uns wirklich Sorgen um Sie. Kolumbien durchläuft eine Zeit großer Spannungen, heftiger Gewalt. Man muss doppelt vorsichtig sein und sehr, sehr aufpassen.«
Ich sehe ihn die Stirn runzeln und mit düsterem Gesicht den Blick abwenden.
Ich bin derartige Worte gewöhnt. Die meisten Menschen, denen ich begegne und die mich unterstützen1 teilen diese Zwangsvorstellung von der Gefahr, speziell die Frauen, die mir immer wieder und auf sehr fürsorgliche Weise sagen, dass sie mich in ihre Gebete einschließen, damit mir nichts geschehe und Gott mich beschütze. In solchen Momenten versuche ich meine Gesprächspartner davon zu überzeugen, dass meine Sicherheit nicht in Gefahr sei, dass ich absolut nichts riskiere, da ich der Ansicht bin, dass die Regierung mit dieser Angst der Kolumbianer spielt. Wie ließe sich die Hoffnung eines Volkes besser zunichte machen, als indem man es davon überzeugt, dass jeder, der zu reden und die Dinge beim Namen zu nennen wagt, unverzüglich aus dem Weg geräumt wird?
»Machen Sie sich keine Sorgen«
, sage ich zu diesem Mann, »ich werde perfekt beschützt, ich habe um mich herum einen diskreten, aber erfolgreichen Sicherheitsapparat, Sie haben nichts zu befürchten. Ich danke Ihnen allerdings für das Interesse, das Sie mir entgegenbringen, aber was kann ich für Sie tun?«

Überraschenderweise wiederholt er mit noch finstererem Blick, was ich für eine höfliche Einleitung gehalten habe.

Der Präsident des Pariser Zivilgerichts hat per einstweiliger Verfügung angeordnet, auf den Protest von Herrn Ernesto Samper gegen die ihn betreffenden Vorwürfe auf den Seiten 8-11, 53,151-154, 155-161, 177 und 197 f. dieses Buches, die er als verleumderisch betrachtet hinzuweisen.

»Es war mir ein großer Wunsch, Sie kennen zu lernen, Doctora, aber in erster Linie bin ich hier, um Sie zu warnen. Wir sind sehr besorgt ...«
»Das ist sehr freundlich, ich bin gerührt, aber, wie Ihnen meine Sekretärin sicher gesagt hat, ich habe wenig Zeit.«
Ich blicke ostentativ auf meine Uhr. »Sie haben nicht verstanden«
, fährt er trocken fort. »Ich will Ihnen klarmachen, dass Sie wirklich aufpassen müssen.«
Nun hat sein Gesicht nichts Sympathisches mehr. Er fixiert mich starr mit hartem Blick. Mit einem Mal wird mir bewusst, dass er nicht der Mann ist, für den ich ihn hielt, dass er nicht der verzweifelte Bürger ist, der einen um Hilfe anfleht, der hartnäckige Bewunderer, den ich vermutet habe, sondern jemand mit einem Auftrag, der mir etwas ganz Konkretes zu übermitteln hat. Ich wechsele meinerseits den Tonfall. »Wie lautet die Botschaft?«, frage ich mit leichtem Lachen. »Wollen Sie mir drohen?«
»Nein, das ist keine Drohung. Ich bin nicht hier, um Ihnen Angst zu machen, ich bin hier, um Sie zu warnen. Sie sollten wissen, dass Sie in Gefahr sind, dass Ihre Familie in Gefahr ist. Ich spreche im Namen der Leute, die bereits einen Vertrag auf Sie abgeschlossen haben. Sie raten Ihnen zu verschwinden, weil der Entschluss gefasst ist. Um genau zu sein, Doctora, will ich Ihnen sagen: Wir haben die >Sicarios< bereits bezahlt.«
Mit Sicherheit bin ich blass geworden. In diesem Moment weiß ich, dass er nicht lügt. Das Wort »Sicarios« fungiert bei uns als Schlüsselwort. Das sind Männer auf Motorrädern, die in den größten Elendsvierteln der Außenbezirke rekrutiert werden und täglich für lächerliche Summen in Kolumbien Menschen umbringen.

Ich habe also eine Grenze überschritten, eine rote Linie. Diesmal will man mich wirklich einschüchtern. Sechs Monate zuvor, als ich das Parlament in einer eisigen Julinacht verließ, wurden mein Auto und das meiner Leibwächter von Schützen als Zielscheibe benutzt. Damals ist niemand getroffen worden und ich haue glauben wollen, dass wir einfach im falschen Moment am falschen Ort vorbeigekommen waren. »Was Sie mir also letztlich ankündigen wollen«, sage ich wohlartikuliert und meinen Blick starr auf ihn geheftet, »ist, dass Sie mich töten werden.«
»Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen gehen, weil die entsprechenden Maßnahmen bereits ergriffen sind.«
Der Mann steht auf, gibt mir die Hand, verabschiedet sich sehr höflich und verschwindet.
Habe ich seine Hand gedrückt? Habe ich sogar sein Lächeln erwidert? S. 7-9

Lesezitate nach Ingrid Betancourt - Die Wut in meinem Herzen



© 26.2.2002 by
Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de