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Generation Ally
Katja Kullmann - Generation Ally

s musste kommen, vermutlich lag es in der Luft: nach der »Generation Golf« von Florian lllies droht die nächste Schublade belegt zu werden. Diesmal allerdings betrifft es ausschließlich die Frauen und darunter die »thirtysomethings«.

Also, wenn Sie weiblich, um die dreißig, Single und beruflich schon ziemlich weit oben auf der Karriere-Leiter angelangt sind, dann sind Sie gemeint in Katja Kullmanns erstem Buch »Generation Ally«. Vorlage war natürlich, das ist klar, die Serien-Kult-Figur Ally McBeal, eine neurotische, super schlanke Anwältin, die mit ihren flotten Sprüchen von einem Fettnäpfchen ins nächste stolpert.

Katja Kullmann unternimmt mit spitzer Feder eine Bestandsaufnahme. Wie weit haben es die Party Girls von einst gebracht, denen das makramee-geschmückte Reihenhäuschen ihrer Mütter viel zu spießig war. Lümmeln sie heute, nach zügigem Studieren, ersten Jobs und jeder Menge Lifestyle zufriedener auf ihrer Rolf- Benz-Coach? Lebt es sich als Single tatsächlich so unbeschwert, wie sie bis vor einigen Jahren noch bei abendlichen Meetings in gepflegten Hotellobbys behauptet haben? Oder ist ganz weit hinten im Hinterkopf, dort wo die ehrlichen Momente beheimatet sind, die man sich selbst nur sehr selten gönnt "die Einsamkeit der postmodernen Frau vor der Familiengründung" auf Dauer einfach nicht zu ertragen?

Wenn Sie zu den betroffenen Frauen gehören, werden Sie spätestens jetzt auf die Uhr blicken und sich ungeduldig fragen, ob sie dies wirklich lesen müssen. Ehrlich, auf Ally McBeal können Sie dienstagabends auch verzichten, doch zur Entspannung ist sie hin und wieder gar nicht übel, oder? © manuela haselberger


Katja Kullmann - Generation Ally

© 2002, Frankfurt, Eichborn Verlag, 217 S., 14.90 €
© 2003, Frankfurt, FischerVerlag, 217 S., 8.90 €
© 2002, Frankfurt, Eichborn Verlag, 1 CD., 17.90 €


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Lesezitate

DIE ALLY IN UNS ALLEN
Eine Art Vorwort

"In Wahrheit will ich gar nicht glücklich oder zufrieden sein. Denn: Was wäre dann? Eigentlich gefällt mir dieser Zustand, diese Suche. Genau darin liegt der Spaß. Je schlechter es einem geht, desto mehr gibt es, worauf man sich freuen kann. Wer hätte das gedacht? Es geht mir richtig gut, ich hab´s bloß noch nicht bemerkt." (Ally McBeal, 1. Staffel, Folge 1)

Eine Frage vorweg: Gehören Sie auch zu der Million Frauen, die dienstagabends zwischen 22 und 23 Uhr bei Vox Ally McBeal einschalten, die amerikanische Fernsehserie um eine neurotische Anwältin? Wenn ja, dann wissen Sie, worum es geht. Wenn nicht, ist es nicht schlimm. Sie haben vermutlich nicht viel verpasst. Als Frau um die 30 dürfte Ihr eigenes Leben aufregend genug sein. Darum geht es in diesem Buch. Wenn Sie ein Mann sind, macht das auch nichts. Sie könnten noch etwas lernen, schließlich sind Sie Teil der Szenerie, haben im Job oder im Privaten täglich mit Frauen zu tun. Also lesen Sie ruhig weiter, auch wenn Sie keine Ahnung von Gesichts-BRs, Unisex-Toiletten und der biologischen Uhr haben. Stellen Sie sich einfach vor, es ist Dienstag, 19.45 Uhr, und Sie sitzen im Büro. Sie sind Sachbearbeiterin oder Werbekauffrau, nennen sich Office Managerin oder Team Assistant und arbeiten für eine Agentur-für-Irgendwas, nicht gerade sechzehn, aber immerhin zehn Stunden am Tag. Sie leben in einer Stadt mit mehr als 100.000 Einwohnern in einem passablen Viertel, in einer Zweieinhalbzimrnerwohnung mit Dielenboden oder Laminat. Aller Wahrscheinlichkeit nach allein, denn Sie sind Single. Vielleicht gehören Sie zu denjenigen, die auf den Anruf eines Mannes warten. Vielleicht führen Sie eine Wochenendbeziehung. Auf jeden Fall sind Sie häufig unterwegs, zu Firmenreisen, Businessdinners, Wohnungseinweihungspartys, Polterabenden, Städtetrips, Extremsport-Seminaren, Frauen-Netzwerk-Treffen, Fisch-sucht-Fahrrad-Feten, zu Besuch bei den Eltern in Hildesheim oder bei Freunden in Houston, Hongkong, Haifa. Heute ist Ihr 31. Geburtstag. Für den Abend haben Sie ein paar Leute in eine Lounge eingeladen, Kollegen, Bekannte, Artverwandte. Sie müssen los, die anderen warten auf Sie.

In der Lounge schmeißen Sie mehrere Runden Cocktails und ausländisches Kultbier, das in exotischen Flaschen ausgeschenkt wird. Die Gespräche drehen sich zunächst kurz um Sie und Ihren Geburtstag, dann lange ums Geschäft, den Job, Mobbing-Anekdoten werden ausgetauscht, schließlich verabschieden sich die ersten, weil sie morgen wieder früh raus müssen, und diejenigen, die definitiv zu viel getrunken haben, belallen Beziehungskrisen und Partnersuche. Sie merken, dass der Abend gelaufen ist, verabschieden sich, zahlen per Electronic Cash, rufen mit dem Handy ein Taxi und lassen sich nach Hause fahren. Auch Sie müssen morgen früh raus, ein Meeting steht an.

Im Briefkasten finden Sie eine Glückwunschkarte Ihrer Eltern, die Auszüge ihres Online-Depots und ein Werbemailing für Katzenfutter samt Futterprobe. Frau, ledig, Katzenfreundin. Dabei haben Sie eine Katzenallergie. Dann noch die Frauenzeitschrift, die Sie abonniert haben, Titelstory: "66 Tipps für besseren Sex". Sie kommen in Ihre Wohnung, dimmen den Deckenfluter und checken Ihr privates E-Mail-Postfach. "Sie haben Post", sagt die Frau vom EMaiI-Dienst, und alles ist gut. Sie sind online, Sie sind vernetzt, Sie kommunizieren. Jede E-Mail, jede SMS, jede Nachricht auf der Handy-Mailbox sagt Ihnen, dass Sie jemand sind.

Gerne hätten Sie heute Abend zur Feier des Tages Geschlechtsverkehr gehabt, wenn Ihnen schon keiner Blütenblätter aufs Kissen streut. Aber das war schlecht zu organisieren. Vor allem, weil Ihnen der vorläufig letzte Akt - mit einem Kollegen aus einer Partnerfirma aus einer anderen Stadt oder mit Ihrem Lebensabschnittsgefährten, der gerade auf Dienstreise ist - Ihnen einen Pilz eingebracht hat, die Grippe der Frauen. Überarbeitung, Anfälligkeit, schwaches Immunsystem. Ihre frisch epilierte Bikinizone müssen Sie nun zeitweilig mit einer klebrigen Fungizid-Creme beschmieren. Keine gute Voraussetzung für einen Flirt-for-Fun. Außerdem dieses Meeting morgen.

Sie gehen ins Bad, schminken sich ab. Es ist kein Schock, dass sich das Mädchenhafte in Ihren Zügen bereits weitgehend verflüchtigt hat, dass sich feine Linien in die Haut um Augen und Mundwinkel gegraben haben. "Scheiß auf die Körperhygiene", denken Sie, wen interessiert's? Sie werden morgen duschen, putzen sich die Zähne und legen sich auf Ihr 1,40x2-Meter-Bett, das Matratzenmaß dieser Tage - zu groß für einen Menschen alleine, zu klein für zwei zusammen. Daneben liegen dieses Buch über Buddhismus und dieser Finanzratgeber für Frauen, mit deren Lektüre Sie vor Monaten begonnen hatten, aber Sie kommen einfach nicht weiter, Sie haben schon wieder vergessen, was Sie bisher lasen, weil Sie so furchtbar viel um die Ohren haben.

Buddhismus und Geldanlage: Sie haben das dunkle Gefühl, an Ihrer Altersvorsorge ist noch einiges zu tun, mental wie materiell. Eigentlich hatten Sie noch ein Kind eingeplant. Das bedeutet finanzielle, arbeitszeitliche und vor allem partnerschaftliche Organisation höchster Diffizilitätsstufe. Sie schauen an die Decke und wünschen sich Gefühle. Große Gefühle, die Ihnen sagen, wie es um Sie steht, Glück, Stolz, wenigstens Einsamkeit. Sie warten einige Sekunden, Minuten, aber es kommt nichts. Sie sind das, was man gerade noch jung nennt, auf alle Fälle erfolgreich. Sie haben sich etwas aufgebaut, ganz für sich allein. Sie brauchen nichts und niemanden. Aber Sie wollen alles und jemanden. Jemanden zum Lieben und zum Familiegründen. Sie denken an die Kollegin, die geheiratet hat und schwanger wurde und sich für ein Jahr in die Elternzeit verabschiedet hat, obwohl sie gerade zur Senior-Irgendwas befördert wurde.
Sie denken an Ihre allein stehende Chefin, die ihren Jahresurlaub stets auf einer Karibikinsel verbringt, wo sie für viel Geld dunkelhäutige Loverboys mietet, die ihr im Gegenzug Komplimente und körperliche Zuwendung geben. Sie denken an Ihre Mutter, die in Ihrem Alter bereits drei Kinder hatte, dafür keinen Beruf, und daran, dass Sie selbst es heute viel besser haben. Sie waren schon lange nicht mehr richtig verliebt, nur flüchtig verknallt oder von Gewohnheit ermüdet. Das Männerproblem, die Mutterschaft, die Rentenfrage, die Glückssuche - all das ist anstrengend. So anstrengend, dass Sie oft zu erschöpft sind zum Nachdenken.

Mit der multioptionalen Fernbedienung schalten Sie den DolbySurround-Fernseher ein und dann den Videorecorder, der die neueste Ally-McBeal-Episode aufgenommen hat, die wenige Stunden zuvor ausgestrahlt wurde, als Sie gerade in der Lounge saßen und tranken. Wenn irgend möglich, verpassen Sie keine Folge dieser Serie, Ihrer Lieblingsserie. Die Bostoner Fernsehanwältin sagt Sätze wie diese: "Ich dachte immer, wenn ich 30 bin, dann wäre ich reich, hätte Erfolg und drei Kinder und einen Mann, der abends auf mich wartet und mir die Füße krault. Und jetzt sieh mich an: Mir gefallen nicht einmal meine Haare!" Sie sind nicht einmal mehr 30, Sie sind seit heute 31, und Sie müssen schmunzeln, Sie fühlen sich verstanden, Sie fühlen sich ertappt. "Genau so ist es", denken Sie. Wie diese Ally sich abzappelt in ihrem großartig kleinen Leben, total emotional, durchgeknallt, sie darf was, sie kann was - irgendetwas hat das mit Ihnen zu tun, denken Sie. "Ich bin nicht allein", denken Sie. Allys piepsige Niedlichkeit beruhigt Sie, und Sie schlafen ein, noch bevor das Band zu Ende ist und der Fernseher zu rauschen beginnt.


Als "gut ausgebildete, erfolgreiche Frauen, die Spaß am Job haben und für die ein überlanger Arbeitstag völlig normal ist", beschrieb die österreichische Frauenzeitschrift Wienerin die Ally-Anhängerinnen. Frauen zwischen 25 und 40, die Hälfte Singles, Frauen, "die genau wissen, was sie wollen und sich nichts gefallen lassen. Schon gar nicht von Männern". Das Londoner Times Magazine bezeichnete die Fernsehfigur als "Ikone eines neuen Ich-Feminismus". Das Wirtschaftsmagazin Bizz fragte seine Leserinnen und Leser: "Sind wir nicht alle ein bisschen Ally?", und brachte in derselben Ausgabe eine Titelgeschichte zum Thema "Karriere-Killer Kind?". Genau darum geht es in den Hinterzimmern von Allys Glitzerwelt - und auch im Leben ihrer weiblichen Fans: Karriere, Kinder und andere grundlegende Fragen der Lebensplanung - die in der Realität freilich nicht mit ein paar Slapstickeinlagen wegzuwischen sind. Wenn Ally sich auf dem Bildschirm mit einem Chauvi anlegt, dann schlägt sie ihm in ihrer Fantasie mit der Faust in die Magengrube, und ihre Anhängerinnen triumphieren gedanklich mit ihr. Wenn die biologische Uhr wieder einmal laut tickt, tanzt Ally mit einem imaginären Säugling, der rhythmisch »Ugachaka« ruft. Wenn sie an Liebeskummer leidet, dann futtert sie eine Packung Vanilleeis und verliert sich in Barry-White-Halluzinationen. Die TV-Heldin kämpft mit zwei Prinzipien: dem der Unmöglichkeit und dem der Ungerechtigkeit. Es ist für Frauen scheinbar unmöglich, beruflich erfolgreich und privat glücklich zu sein, führt sie uns vor. Und das ist verdammt ungerecht, findet Ally. Das kennen wir irgendwoher, denken wir, die Zuschauerinnen und Frauenzeitschriftenleserinnen.

Weibliche Heldinnenbilder verändern sich mit der Zeit, gesamt-gesellschaftlich wie privatpsychologisch. Mit acht Jahren schauten wir Pippi Langstrumpf im Kinderferienprogramm, mit elf bewunderten wir die Baseball spielende Amanda aus Die Bären sind los. Mit 14 war es die früh von zu Hause ausgezogene Balletttänzerin Anna in der gleichnamigen ZDF-Serie, mit 19 die amour-fou-anfällige Kelly aus Beverly Hills 90210. Mit 24 mussten wir in Melrose Place entsetzt feststellen, was aus der Kaugummi kauenden, selbst-bewussten Baseball-Amanda von einst geworden war: Die neue Amanda war um die 30, wurde gespielt von der früheren Denver-Schlampe Heather Locklear, besaß eine Werbeagentur und war zur eiskalten, biestigen Karrierekuh mutiert. Erfolg im Job = Pech in der Liebe = gefrustetes Um-sich-Beißen = andauernde Bestrafung. Das war die Botschaft.

Nun ist es also Ally. Ein ziemlich logischer Anschluss, denn Ally ist im Grunde nichts anderes als Amanda von innen. Amanda präsentierte in Melrose Place das nackte, kalte Image der postmodernen, urbanen, erwerbstätigen Single-Frau, Ally haut uns die Gefühlslage einer solchen Frau um die Ohren. Sie darf immerhin beides: erfolgreich und ein nettes Mädchen sein.S. 7-11


Einer meiner ersten bezahlten Jobs bestand in der freien Mitarbeit als Szene-Reporterin in der Frankfurter Prinz-Redaktion. Auch dort wurden Lifestyle-Trends gemacht beziehungsweise frei erfunden. Oder gab es sie wirklich? Man konnte nie sicher sein, was zuerst da war, der Trend oder die Idee des Trends. Einmal erging es mir wie der Scholz&Friends-Frau aus dem Fernsehbericht: Der Redaktionsschluss rückte näher, und ich hatte einfach kein Thema für die Szene-Gastro-Seiten. Dann fiel mir ein, dass kurz zuvor zwei australische Restaurants in der Stadt eröffnet hatten, dort gab es Didgeridoos zu hören, Daiquiries zu trinken und Dornhai zu essen. In meiner Themennot schrieb ich ein bisschen um den heißen Brei herum und erklärte kurzerhand die Exoten-Gastro-Welle für ausgebrochen. Dann passierte etwas Unheimliches: Plötzlich war in allen einschlägigen Gazetten vom Exoten-Trend die Rede, und tatsächlich machte bald an jeder Straßenecke ein Billabong oder ein AussieBurger auf, und wer bis Ende des Jahres noch kein Straußensteak probiert hatte, war hoffnungslos hinterher. Die Prophezeiung hatte sich erfüllt, und ich kam mir vor wie eine moderne Kassandra. Wochenlang pendelte ich zwischen Größenwahn und schlechtem Gewissen, denn ich bildete mir ein, ich hätte das alles angerichtet, was natürlich nicht stimmte. Vermutlich war bloß der journalistische Glücksfall eingetreten, dass ich den sprichwörtlichen richtigen Riecher hatte. Vielleicht war es aber tatsächlich so, dass irgendein Marketingmensch ausgerechnet meinen Artikel gelesen hatte und daraus eine Riesenwelle machte und Investoren nötigte, Exotik-Ketten zu gründen. "Nichts ist unmöglich", sangen die Paviane im ToyotaSpot. Die Lifestyle-Redakteure von damals, einige von ihnen arbeiten heute für die Süddeutsche Zeitung oder die Zeit , konnten die Welt mit jeder Ausgabe neu erfinden - und meist funktionierte es. Sie schrieben voneinander ab, und sie meinten es nicht böse. Es war einfach ein Riesenspaß.

Als Leser und Konsumenten waren wir sofort Feuer und Flamme. Wir richteten uns gleich häuslich ein im Lifestyle-Universum, denn es erschien uns so bunt und prall wie unser eigenes Jungerwachsenenleben damals, oder zumindest so, wie es sein sollte. Es war ein prächtiger Zirkus der Unverbindlichkeiten: Was heute galt, konnte morgen schon vergessen sein, und noch für den leisesten Ansatz eines Wunsches gab es bereits ein Erfüllungsangebot. Bevor wir uns mit Anfang 20 überhaupt die Frage stellten, wer wir waren oder sein wollten, waren schon die Instant-Identitäten verfügbar, und wir bedienten uns: Single sein, Adiletten tragen, Kängurusteak essen und zu House-Musik tanzen. Das bedeutete: lebenslustig und mobil sein, mit einem Faible für Sport und Lässigkeit, im Global Village zu Hause, mit einem Herz für folkloristisch anmutige Minderheiten wie die Aborigines, und außerdem mit elektronischen Beats am Puls der Zeit. Man musste sich nicht umständlich erklären, man musste sich bloß mit adäquaten Zeichen und Symbolen schmücken, damit das Gegenüber einen erkannte. Das Angebot war mindestens so bequem und beruhigend wie das Geld, das einige von uns noch bis zum 30. Geburtstag von ihren Eltern zugesteckt bekamen, oder die Tatsache, dass es die Achtergruppen gab, die die Nacktschnecke retten. Man sorgte sich nicht um uns, man sorgte für uns. Das Marketing hat uns quasi da weiterbemuttert, wo Muttern aufgehört hatte.

Apropos "Muttern": Der Begriff "Mama" ist abgeleitet vom lateinischen "mamma", und bedeutet ursprünglich "Busen", wussten Sie das? Bis in die späten 90er hielten sich die Silikonsirenen, Boxenluder und Tittenwunder noch zurück, vermutlich lagen sie noch unter dem Messer. Einige von ihnen waren allerdings einige Jahre zuvor bereits bei Hugo Egon Balders Stripshow Tutti Frutti auf RTL herumgetrippelt und hatten probehalber schon einmal mit dem Tittenschwenken angefangen, als Kirsche, Mandarine oder Erdbeere. Aber gleichzeitig war auf demselben Sender in einer anderen BalderShow Hella von Sinnen aktiv, als lebendiger Umkehrschluss zum Tussitum. Mit frechen Sprüchen und irren Kostümen führte Frau von Sinnen als Humorlesbe durch die Tortenschlacht-Show Alles nichts, oder, eine Art Kindergeburtstag für Erwachsene. Dann stellte sie der Öffentlichkeit auch noch ihre Lebensgefahrtin vor, und dabei handelte es sich nicht um irgendwen, sondern um Cornelia Scheel, die Tochter des früheren Bundespräsidenten. Auch wenn wir selbst mit dem Lesbentum nicht viel am Hut hatten: Im Zweifelsfall zollten wir der witzigen Hella Respekt und straften den Tutti-Frutti-Obstkorb mit mitleidigem Lächeln, denn Dummheit war damals noch ein Wert, und zwar kein geschätzter. Wenn Harald Schmidt und wenig später Ingo Appelt tief in die frauenfeindliche Kalauerkiste griffen, schlugen wir uns auf die Schenkel, kräftiger noch als die Männer. Wir hatten kein Problem damit, selbst über die abgeschmacktesten Klischees von Weiblichkeit zu lachen, es tangierte uns nicht, denn gleichzeitig war allenthalben von "starken" Frauen die Rede, und es stand außer Zweifel, dass wir uns zu ihnen zählten.

Da gab es zum Beispiel Thelma & Louise, die 1991 im Kino rebellinnenhaft über amerikanische Highways sausten, nachdem sie ihre Hausfrauen- beziehungsweise Kellnerinnenexistenz abgestreift und einen potenziellen Vergewaltiger gekillt hatten. "Endlich zwei taffe Heldinnenfiguren", sagte man damals, mit Betonung auf dem "-in", und fand den Film automatisch toll. Die Tatsache, dass Susan Sarandon und Geena Davis in den Hauptrollen herumballerten und Bier tranken wie sonst nur Bruce Willis oder Kurt Russell, wurde bereits als Qualitätsmerkmal gehandelt, und kaum jemand beachtete Brad Pitt, der in einer Nebenrolle auftrat, einige Jahre bevor er zum Herzensbrecher avancierte. Ein "Frauenfilm", allerdings von einem Mann gedreht, Ridley Scott, ein Frauenfilm, der nicht einmal ein echtes Happy End hatte, das schien revolutionär. Zur Erinnerung: Am Ende rasen Thelma und Louise mit ihrer verbeulten Karre auf eine Klippe zu, verfolgt von einer Hundertschaft scharf bewaffneter Bullen, Männlichkeit ad extremum. Thelma und Louise entscheiden sich lachend für den Freitod, rumms, aus die Maus. Hundertprozentig überzeugend ist das eigentlich nicht. Aber halbwegs neu war es, immerhin.

Die deutsche Geena Davis dieser Tage hieß Katja Riemann und in dem Film Abgeschminkt von 1993 war sie bei der Suche nach dem Richtigen zu sehen. Sie war nicht leicht zufrieden zu stellen, und es stand außer Frage, dass ein Macho wie der von Gedeon Burkhardt gespielte Rene bei ihr keine Chance haben würde. Taffe "Mädels" allerorten. In London machte sich bald der Heroin-Chic breit und die Trendmagazine The Face und i-D präsentierten krankhaft abgemagerte beziehungsweise wasserleichenhaft aufgequollene Menschen, Männer und Frauen, die aussahen, als litten sie nicht nur an Aids und am kalten Entzug, sondern auch an Syphilis und Skorbut, die aber trotzdem aus derselben Dose Billigbier tranken (so wie Katja Riemann und Jasmin Tabatabai 1997 als musizierende Knastvögel in dem Film Bandits). Androgyne Wesen beherrschten die Szene, sie zerstochen sich nicht nur die Adern mit derselben unsterilisierten Nadel, sie ritzten sich damit auch noch Punk-Botschaften in die Oberarme, Männer wie Frauen. Kurzzeitig machte 1995 im Kino das Tank Girl von sich reden, eine brutale Sci-Fi-Heldin, die keine geringere Aufgabe hatte, als die Welt zu retten, und eine Zukunft der Amazonen skizzierte. "In 2033 justice rides a tank and wears lipgloss", hieß es auf den Filmplakaten. Zur Aufrüstung der Weiblichkeit gab es den Wonder Bra, den man sich umschnallte wie einen Hartschalenpanzer. Hier bin ich, look at me.

Vor allem aber gab es Heike Makatsch. Sie ging Ende 1993 bei Viva auf den Sender, und sie hatte ähnliche Qualitäten, wie wir sie heute an unserer Lieblingsfernsehfigur Ally schätzen: Sie war attraktiv; aber für uns Frauen ungefährlich. Heike fanden wir anfangs schwer sympathisch, wenn wir ehrlich sind. Ihre Stimme klang immer so, als hätte sie die Nächte durchgemacht, was vermutlich auch stimmte. In einem Prinz-Interview, schätzungsweise erste Hälfte 1994, erzählte sie, dass sie jeden Tag auf dem Weg ins TV-Dorf Hürth an einer Tankstelle hält und ein Puddingplunder frühstückt. Mich hat das tief beeindruckt. Ein Puddingplunder an der Tankstelle, und danach ein paar Videos ansagen und ein paar Popstars interviewen - das "hatte was", wie man in dieser Zeit so gerne sagte. S. 77-80


Statistisch gesehen waren wir sechzehneinhalb Jahre alt, als wir die Kerze mit dem betörenden Apfelaroma in unserem Zimmer anzündeten, damit es geschehen konnte. Unsere Vorbereitungen hatte unter anderem darin bestanden, dass wir uns einen festen Freund gesucht hatten, denn Mitte der 80er war es Standard, erst eine so genannte Beziehung zu haben, bevor man sich entjungfern ließ. Wenn auch er noch keine Erfahrung hatte, war uns das eigentlich nur recht, das machte die Sache irgendwie fairer, man würde gemeinsam alles erforschen. Einige hatten im Bücherschrank ihrer Eltern eine verstaubte Ausgabe von Erich Fromms Die Kunst des Liebens gefunden und waren sehr enttäuscht, dass es darin weniger um Körperliches als um Geistiges ging. Meine Eltern besaßen eine deutsche Übersetzung des Kamasutra aus den 70ern, die sie in den 80ern in die hinterste Ecke des Bücherschranks verbannt hatten, versteckt hinter Dale Carnegies Sorge Dich nicht, lebe!. Waren meine Eltern nicht da, ging ich ans Buchregal und ließ die Wohnzimmertür weit offen stehen, damit ich sofort hören konnte, wenn sich der Schlüssel im Schloss umdrehte, denn ich wollte herausfinden, was im Kamasutra so alles steht, aber ich wollte nicht, dass meine Eltern es mitbekamen. In den umständlichen Sätzen war allerdings überwiegend von Elefantenkühen die Rede statt von Frauen und Männern, in meiner Eile muss ich alle spannenden Stellen überblättert haben. Dort stand außerdem, dass das Wort "sit" den geschulten Kamasutra-Jünger in schiere Ekstase versetzen kann. Das habe ich mir gemerkt, denn ich neige beim Tippen auf der Tastatur zu Buchstabendrehern, und sehr oft schreibe ich "sit" statt "ist", und jedesmal überlege ich, ob es mich irgendwie antörnen könnte, wenn ein Mann mich an-sit-tet, "ssssssssssit", und jedesmal komme ich zu dem Schluss: Nein. "Ficken, Baby?" fände ich anziehender. Aber da kann ich vermutlich nicht mitreden. Ich besitze ja nicht einmal ein Futonbett, geschweige denn ein Buddha-Bändchen.


In den Jahren 1986/87 tauchte der Begriff Aids in den Medien auf Nach Angaben der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung sahen 1990 rund 60 Prozent aller Jugendlichen zwischen 16 und 18 den HI-Virus als "höchst gefährlich" an, während es im Jahr 2000 nur noch 37 Prozent waren. In der Rückschau betrachtet, hat uns Aids aber gar nicht so stark beeinflusst, wie man annehmen könnte.

Zum einen hieß es anfangs tatsächlich, nur Homosexuelle und Junkies seien betroffen. Zum anderen barg der Sex als solcher schon so viele Gefahren und Unwägbarkeiten, dass es auf diese Krankheit auch nicht mehr ankam, so zynisch das heute klingen mag. Scheidenkrämpfe, Verbluten, Blitzschwangerschaften: Sex war für uns anfangs sowieso schon fast etwas Medizinisches, mit all den Kondomen und Zäpfchen, die man sich vorsorglich zulegte, wenn man länger als vier Wochen mit einem Jungen ging. So oder so, wir hatten uns im Idealfall bestens präpariert und uns neben Verhütungsmitteln einen Entjungferer organisiert, der auch ganz bestimmt kein Aids hatte. Die Dramaturgie unseres damaligen Liebeslebens hing stark mit der Reisetätigkeit unserer Eltern zusammen. Überproportional häufig verloren wir unsere Unschuld, wenn Mama und Papa auf Studien- oder Städtereise waren oder bei der Beerdigung eines entfernten Verwandten in Nord- oder Süddeutschland. Aktion "sturmfreie Bude" eben. Mädchen sind meist mitteilsam, und so erfuhren wir der Reihe nach von unseren Freundinnen, wie, wann und wo es passiert war. Besonders häufig erwähnt wurden selbst gemachte Pizza und überbackene Blumenkohlköpfe, die nur ein Minimum kulinarischen Könnens erforderten und in der Kombination mit Sekt von der Tankstelle im weitesten Sinne aphrodisierend wirken sollten. Viele hatten sich besonders schöne Unterwäsche gekauft, irgendetwas mit Spitze und Satin oder wenigstens etwas aus der Jung&Frisch-Baumwollkollektion von BeeDees. Je nachdem, wie weit das Petting in den Wochen zuvor schon gegangen war, schoben manche 9½ Wochen in den Videorecorder und hatten eine Packung Erdbeeren besorgt. Einige erlebten ihren ersten Sex auch mehr im Vorbeigehen, auf einer Autorückbank oder in einem Treppenhaus.

Wenn wir den Jungen wirklich mochten, dann war das erste Mal meist okay, nicht mehr, nicht weniger. Es hat ein bisschen wehgetan, und wohl kaum eine hat dabei einen Orgasmus erlebt. Von erotischer Ohnmacht keine Spur. Aber vielleicht von einer zarten Ahnung, welche Möglichkeiten dieses Spiel bieten könnte, eines Tages, wenn wir es besser beherrschten. Die Details waren natürlich individuell verschieden, weit verbreitet war ein entrücktes Lächeln an den Tagen danach. Wir dachten, jeder sähe uns an, dass wir endlich Sex gehabt hatten. Glücklicherweise kam es selten vor, dass tatsächlich eine von uns verblutete, am nächsten Morgen einen Säugling gebar oder einen Scheidenkrampf mit dem Schneidbrenner lösen musste.

Gleich, ob das erste Mal gut vorbereitet mit einem festen Freund geschah oder weniger geplant im Familienurlaub mit einem Strandkorbsortierer an der französischen Riviera: Prinzipiell verfolgten wir schon von Anfang an das Prinzip der seriellen Monogamie, auch wenn wir noch gar nicht wussten, was das heißt. Nicht selten waren Kleinstadt-Gymnasiastinnen Ende der 80er recht lange mit ihrem ersten Freund zusammen, und unter lange verstanden wir damals Zeiträume von sechs bis zwölf Monaten. Manche trennten sich auch bis zum Abitur nicht voneinander. Spätestens nach dem Ende der Schulzeit verfielen die meisten von uns jedoch erst einmal in eine »wilde Phase". Brenda und Dylan machten in Beverly HilIs 90210 Schluss, und auch die Jurastudentin Ally McBeal und ihr Jugendfreund Billy gingen irgendwann getrennter Wege, bis sie sich Jahre darauf in einer Kanzlei in Boston wiedertreffen sollten. Wir wollten "Erfahrungen" machen, bevor wir uns später wieder einen festen Freund zulegten.

Vor allen Dingen wollten wir nichts verpassen. Und das funktionierte am besten, wenn man Single war. Das Singletum war das soziale Pendant zum modischen Erfolgszug der Levi´s 501: Es war der gesamtgesellschaftliche Megatrend der 90er. Alles musste Event-Charakter haben, als Ausgleich für fehlende Gefühle. Singles machen zwar nur 17 Prozent der deutschen Bevölkerung aus, aber sie verfügen über 21 Prozent des frei verfügbaren Einkommens. Es gab plötzlich Single-Bettwäsche, Single-Reisen - etwa auf dem Clubschiff Aida -, Single-Menüs im Tiefkühlregal, Single-Shows im Fernsehen und Single-Partys in jeder Stadt. Fisch sucht Fahrrad oder Konrad sucht Conny hießen die Kuppelveranstaltungen, die Anfang der 80er von linksalternativen Stadtmagazinen erfunden worden waren, etwa vom ehemaligen Spontiblatt Journal Frankfurt. Im Foyer solcher Festivitäten waren private Kontaktanzeigen ausgehängt. Man pappte sich die Nummern der halbwegs originellen Inserate an die Brust und wartete, dass man angesprochen wurde. Es gab Single-Partys für Studenten, für Gays, für Menschen über 30, für Vegetarier und Veganer, für jede erdenkliche Spezies. Inzwischen gibt es sogar SMS-Flirtpartys, man funkt sich schlüpfrige Botschaften aufs Display, obwohl man sich im selben Raum aufhält und auch einfach gemeinsam an der Bar sitzen und sich unterhalten könnte. Wenn diese ganze UMTS-Sache endlich funktioniert, wird man sich sogar Bilder schicken können, "Ich, 1999 am Strand von Miami", was aber nichts an der Tatsache ändert, dass solche Abende nichts anderes sind als Bälle für hoffnungslose Fälle.

Die begehrenswerteste Eigenschaft, mit der man in den 9oern um die Gunst eines anderen Singles werben konnte, war die Spontaneität. "Hallo, ich bin die Melanie, und ich bin totaaal spontaaaan, und manchmal auch ein bisschen ausgeflippt." Der Single-Markt war anfangs auch deshalb so attraktiv; weil er die Möglichkeit bot, sich selbst ständig neu zu erfinden, nicht nur äußerlich, sondern auch charakterlich. Man konnte sich theoretisch und praktisch in der Herzblatt-Sendung auf einen Hocker setzen und sich als sportive Surferin mit Spaß an Sex unter freiem Himmel auf den Markt werfen. Wenn das keinen Erfolg hatte, konnte man in den 100 Singles zum verlieben -Beilagen von Fit for Fun oder Amica eine andere Taktik ausprobieren und sich als romantisch veranlagte Sinnsucherin mit geheimnisvollen Macken anpreisen: "Stille Wasser sind tief" Oder aber man machte beim Single-Dinner im örtlichen Szene-Restaurant auf markige Männermörderin, ganz nach Belieben. In den späten 90ern konnte man zudem kurzzeitig für Furore sorgen, indem man als Frau öffentlich Zigarren paffie. Besonders sexy kam es, wenn man dabei ein Nadelstreifenjackett ohne-was-drunter trug und nicht husten musste. "Frühestens um 22 Uhr geht man auf Ibiza zum Abendessen. Gegen Mitternacht rauchen auch feine Damen eine Zigarre im vornehmen Restaurant Madrigal von Mark Lindemann", notierte die Bunte.

Ungeachtet der maskulinen Dunstwolken, die sich alsbald wieder aus unserem Trenduniversum verflüchtigten, ist das weibliche Balzverhalten heute deutlich konservativer als das männliche, haben Verhaltensbiologen an der Uni Münster herausgefunden. Sie analysierten rund 20.000 Kontaktanzeigen aus dem gesamten 20. Jahrhundert und kamen zu dem Ergebnis, dass wir heute noch genau so für uns werben wie unsere Urgroßmütter, nämlich in erster Linie mit Schönheit, während die Männer seltener auf ihre Manneskraft und ihren Erfolg verweisen als noch vor hundert Jahren. Anfang des 20. Jahrhunderts priesen 33 Prozent der Inserentinnen ihr Äußeres an, heute sind es sogar 53 Prozent (Löwenmähne, schlanke Figur). Männer stellten in Vorkriegszeiten zu 80 Prozent ihre gesicherte Existenz in den Vordergrund, heute nur noch zu 40 Prozent (meine Yacht im Mittelmeer). Auch so funktioniert Wertkonservatismus auf die weibliche Art.

Eigentlich hatten wir die "wilde Phase", in der wir die Promiskuität kosteten, lediglich als Übergangszeit gedacht. Laut Statistik hatten wir bis zu unserem 30. Geburtstag gerade einmal 4,4 Liebhaber. Nicht jede hat sich also frank und frei durch fremde Betten gevögelt, mancher genügte vielleicht ein Flirt und ein Kuss beim Unifest, und sie verbuchte dieses Vorkommnis bereits als erotisches Event. Die Generation Ally strebte jedenfalls nicht Jungfräulichkeit bis zur Hochzeit an, sondern nahm sich, was sie begehrte, sei es viel oder wenig gewesen.

Die Tatsache, dass wir im Regelfall schon einmal einen festen Freund hatten, damals, als wir noch im elterlichen Eigenheim wohnten, erleichterte uns den Sex mit fast Fremden ungemein, sie war so-gar die Voraussetzung dafür. Die höchsten Höhen und die tiefsten Tiefen einer jugendlichen Liebesgeschichte hatten wir durchgespielt, tränenreiches Schlussmachen inklusive. Höchstwahrscheinlich haben wir sogar die Eifersucht kennen gelernt. Vielleicht ist er einmal fremdgegangen, vielleicht waren wir es. Fest steht: Mit Anfang 20 hatten wir die erste Lektion in Sachen Liebe gelernt. Wir konnten eine Beziehung führen, wir konnten in dieser Hinsicht nichts mehr verpassen. Ganz im Gegenteil, man würde vermutlich viel eher etwas verpassen, wenn man sich allzu früh allzu fest binden würde.

Es war auch eine Frage der Vernunft: Wir wollten, wie in fast allen Lebensbereichen, das Optimum herausholen. So wie wir für den Job diverse Praktika machten, so ließen wir uns im Privaten einige erotische Abenteuer angedeihen - schaden konnte es ja nicht, der eigene Lebenslauf würde etwas bunter. Oft war es eher Kalkül denn Gefühl. "Jetzt bin ich mal dran", sagten wir zum Beispiel, wenn eine "feste Beziehung" nach acht oder 23 Monaten beendet war, und zogen los, ein neues Herz zu brechen beziehungsweise ein wenig Bestätigung einzuholen.

Manche genossen bei ihren Streifzügen sogar die unbedingte Unterstützung ihrer Mütter. Meine zum Beispiel forderte mich ausdrücklich auf, einen jungen Mann, an dem ich sehr stark hing (er aber nicht an mir), alsbald zu verlassen. "Warum vergnügst du dich nicht mit anderen Jungs, anstatt an diesem Blödmann zu kleben", sagte sie des Öfteren am Telefon, "andere Mütter haben auch schöne Söhne", und nach einer Weile nahm ich ihren Rat an. Hatten unsere Mütter in den 70ern in der Brigitte jedoch noch über Orgasmusproblerne geklagt, so setzten wir uns in den 90ern in der Amica über die Orgasmuslüge auseinander. In beiden Fällen geht es letztlich darum, dass wir sexuell gesehen nicht voll auf unsere Kosten kommen, der qualitative Unterschied besteht darin, dass man dem Orgasmusproblem zunächst einmal ausgeliefert ist, während man die Orgasmuslüge aktiv betreibt. Das setzt eine ganz andere Selbstsicht voraus. Wir waren selbstbewusst, fanden wir, und wenn ein Mann so schlau war und uns sagte, wir seien eine starke Frau, dann standen seine Chancen auf ein wenig Zuneigung ziemlich gut, auch wenn er kein Magier der Liebe, Edelstecher oder echter Hirsch war, sondern nur ein Durchschnittsdübler und Standardstöhner.

So lernten wir die merkwürdigsten Typen kennen, und mit manchen gingen wir ins Bett, einmal oder mehrmals. Im Rückblick betrachtet, waren wir zeitweise ganz schön wahllos. Das liegt vermutlich daran, dass wir uns letztlich weniger für die Typen interessierten als für uns. Wir sind als Abenteurerinnen durch die Großstadt gesegelt, keine von uns hat in dieser Phase ernsthaft nach dem Vater ihrer Kinder gesucht. S. 123-130

Lesezitate nach Katja Kullmann - Generation Ally



© 6.03.2002 by
Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de