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Der zerrissene Schleier Carmen Bin Ladin - Der zerrissene Schleier
Und dennoch begann der 11. September als ein strahlender spätsommerlicher Tag. Ich saß im Auto mit meiner ältesten Tochter Waffa, und wir machten gerade einen Ausflug von Lausanne nach Genf, als mich ein Freund aus New York auf dem Handy anrief.
In diesem Moment wurde mir schlagartig klar, dass das kein Unfall war. Das konnte nur ein gezielter Anschlag sein, auf ein Land, das ich immer geliebt hatte und das mir zur zweiten Heimat geworden war. Ich erstarrte. Und dann erfasste mich blankes Entsetzen. als mir bewusst wurde, dass hinter diesem schrecklichen Verbrechen der Schatten meines Schwagers lauern könnte: Osama Bin Ladin.
Mein erster Impuls war, meine beste Freundin Mary Martha in Kalifornien anzurufen. Ich musste einfach ihre Stimme hören. Sie hatte bereits von dem Anschlag in New York erfahren, und von ihr hörte ich, dass eine dritte Maschine soeben ins Pentagon eingeschlagen war. Die Welt war aus der Bahn geraten: Ich konnte es förmlich spüren.
Ich fuhr so schnell ich konnte zur Schule meiner jüngsten Tochter Nur. Das Entsetzen in ihren Augen verriet mir, dass sie schon Bescheid wusste. Ihr Gesicht war kalkweiß.
Wir rasten zurück nach Hause und trafen meine mittlere Tochter Nadscha vor der Tür, als sie gerade von der Uni kam. Auch sie war völlig verstört. Genau wie viele Millionen Menschen rund um den Globus saßen die Kinder und ich wie gebannt vor dem Fernseher. Weinten und riefen zwischendurch alle unsere Bekannten an.
Osama Bin Ladin. Der Onkel meiner Töchter. Ein Mann, mit dem sie zwar den Namen teilten, dem sie aber nie persönlich begegnet waren und dessen Werte ihnen völlig fremd waren. Ich hatte ein mulmiges Gefühl in der Magengrube. Dieser Tag würde unser aller Leben für immer verändern.
Osama Bin Ladin ist der jüngere Bruder meines Mannes Jeslam. Er ist einer von vielen Brüdern, und ich hatte ihn nur flüchtig kennen gelernt, als ich vor Jahren in Saudi-Arabien lebte. Damals war Osama ein junger Mann. Aber er war schon immer eine imposante Erscheinung. Osama war groß und ernst, und seine tiefe Frömmigkeit hatte etwas Einschüchterndes an sich, selbst für die religiöseren Mitglieder der Familie.
Je länger ich im Kreis der Familie Bin Ladin in Saudi Arabien lebte, desto stärker verkörperte Osama für mich all das, was ich an diesem dunklen und kargen Land abstoßend fand: den unbarmherzigen dogmatischen Glauben, der unser aller Leben bestimmte, die Arroganz und Selbstherrlichkeit der Saudis und ihr mangelndes Mitgefühl für Menschen, die andere Anschauungen hatten als sie. Die Verachtung für Außenstehende und die unnachgiebige Orthodoxie spornten mich zu einem vierzehn Jahre währenden Kampf an, um meinen Kindern ein Leben in der freien Welt zu ermöglichen.
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