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Clarissa drückt Sallys Schulter. Sie möchte sagen: »Ich liebe dich«, aber Sally weiß das natürlich. Sally erwidert den Druck auf Clarissas Oberarm.

»Ja«, sagt Clarissa. »Es wird Zeit.«

In diesem Augenblick scheint es, als verlasse Richard die Welt wahrhaftig. Clarissa spürt es geradezu körperlich, ein sanftes, aber unaufhaltsames Wegziehen, wie wenn ein Grashalm aus der Erde gezupft wird. Bald wird Clarissa schlafen, bald wird jeder, der ihn gekannt hat, schlafen, und morgen früh werden sie aufwachen und feststellen, daß er ins Reich der Toten eingegangen ist. Sie fragt sich, ob der nächste Morgen nicht nur das Ende von Richards irdischem Dasein markieren wird, sondern auch den Anfang vom Ende seiner Lyrik.

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Lesezitat nach Michael Cunningham -
Die Stunden, S. 286


Die Stunden
Michael Cunningham - Die Stunden

Wenn ein Autor für einen Roman gleich mit zwei bedeutenden Literaturpreisen, dem PEN/ Faulkner Award und dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wird, dann ist das eine Sensation auf dem Buchmarkt. Einen solchen Volltreffer hat der Amerikaner Michael Cunningham mit seinem Buch "Die Stunden" gelandet, das mittlerweile in elf Sprachen übersetzt vorliegt.

Sehr gekonnt spielt er mit literarischen Motiven, wobei die Basis Virgina Woolfs Roman "Mrs. Dalloway" bildet. Sie selbst gab ihm den Arbeitstitel "The Hours". Cunningham begleitet die englische Autorin einen Tag lang, als sie damit beginnt, an "Mrs. Dalloway" zu arbeiten und die Idee zu diesem Roman immer mehr in ihrem Kopf Gestalt annimmt.

Parallel dazu, im Jahre 1949, lässt er die amerikanische Hausfrau und Mutter, Laura Brown das Buch "Mrs. Dalloway" lesen. Um ein wenig in Ruhe nachdenken zu können, bringt sie ihren kleinen Sohn zur Nachbarin und mietet sich für den Nachmittag ein Hotelzimmer. Alles was sie möchte, sind einige Stunden ungestörter Lektüre.

Und die dritte Dame, deren Tagesablauf Cunningham beschreibt, ist die Lektorin Clarissa Vaughan, die sich am Ende des 20. Jahrhunderts um ihren an AIDS erkrankten Freund kümmert. Er hat ihr vor vielen Jahren den Spitznamen "Mrs. Dalloway" gegeben.

Die Themen, die alle drei Frauen beschäftigen, sind oberflächlich betrachtet, banal. Es geht um Einladungen oder ein Fest wird vorbereitet, doch in ihrem Innern sind sie mit anderen Dingen beschäftigt. Nicht umsonst beginnt der Roman mit dem Selbstmord Virgina Woolfs. Auch Laura Brown, die mit ihrem zweiten Kinder schwanger ist, probiert in ihrem Hotelzimmer eine andere Wirklichkeit aus, wenn auch nur für wenige Stunden.

Cunningham spielt jedoch nicht nur mit Lebensläufen. Er führt sie in einem furiosen Schluss zusammen, alle Personen erhalten ihren Platz in der wunderbar erzählten Geschichte. Kein Faden bleibt lose, alles ergibt ein vollkommenes Bild.

Das zentrale Thema dieses herausragenden Romans ist der Tod, der in jedem Leben hinter einer versteckten Ecke lauert, den jeder so gut es geht ignoriert und sich in alltägliche Gewohnheiten flüchtet.

Um Michael Cunninghams "Die Stunden" in ihrer Vielschichtigkeit genießen zu können, ist es nicht nötig, dass der Leser den Roman "Mrs. Dalloway" kennt, doch viele werden es als nächstes Buch zu lesen beginnen, das ist ganz sicher.



Michael Cunningham - Die Stunden
aus dem Amerikanischen von Georg Schmidt
Originaltitel: © 1998, "The Hours"
2000, München, Luchterhand Verlag, 295 S.,

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Fortsetzung des Lesezitats ...

Schließlich gibt es so viele Bücher. Manche davon, eine Handvoll, sind gut, und von dieser Handvoll werden nur ein paar übrigbleiben. Schon möglich, daß künftige Erdenbürger, Menschen, die noch nicht geboren sind, Richards Elegien lesen möchten, seine wunderschön temperierten Wehklagen, seine entschieden unsentimentalen Vorstellungen von Liebe und Wut, aber weitaus wahrscheinlicher ist es, daß seine Bücher ebenso verschwinden werden wie fast alles andere. Clarissa, die Figur in einem Roman, wird verschwinden, desgleichen Laura Brown, die verlorene Mutter, die Märtyrerin und Furie.

Ja, denkt Clarissa, es wird Zeit, daß der Tag zu Ende geht. Wir geben unsere Partys; wir verlassen unsere Familien, um in Kanada allein zu leben; wir plagen uns und schreiben Bücher, die die Welt nicht verändern, trotz unserer Gaben und unentwegten Bemühungen, unserer hochfliegenden Hoffnungen. Wir führen unser Leben, verrichten unsere Tätigkeiten, und dann schlafen wir - so einfach und so gewöhnlich ist das. Ein paar springen aus dem Fenster, ertränken sich oder nehmen Tabletten; ein paar mehr sterben bei Unfällen; und die meisten von uns, die breite Masse, werden langsam von irgendeiner Krankheit verzehrt oder, wenn wir großes Glück haben, vom Zahn der Zeit. Und es gibt nur diesen einen Trost: eine Stunde hie und da, in der es uns wider alle Wahrscheinlichkeit und Erwartung so vorkommt, als schäume unser Leben über und schenke uns alles, was wir uns je vorgestellt haben, obgleich jeder, Kinder ausgenommen (und vielleicht sogar die), weiß, daß auf diese Stunden unausweichlich andere folgen werden, die weitaus dunkler sind und schwerer. Dennoch ergötzen wir uns an der Stadt, dem Morgen; wir erhoffen uns, vor allem anderen, mehr davon.

Weiß der Himmel, wieso wir es so lieben.


Lesezitate nach Michael Cunningham - Die Stunden - S. 279


© by Manuela Haselberger
rezensiert am 1.3.2000

Quelle: http://www.bookinist.de
layout © Thomas Haselberger