Am 18. Januar 1765 teilte der Minister Bernstorff dem jungen Thronfolger mit, daß die Regierung in ihrer Dienstagssitzung, und nach nahezu zweijährigen Verhandlungen mit der englischen Regierung, beschlossen habe, ihn mit der dreizehnjährigen englischen Prinzessin Caroline Mathilde, einer Schwester des englischen Königs Georg III., zu vermählen.
Die Hochzeit sollte im November 1766 stattfinden.
Christian war bei dieser Mitteilung des Namens seiner Zu-künftigen in seine gewöhnlichen Körperbewegungen verfallen, hatte mit den Fingerspitzen seine Haut beklopft, auf seinen Bauch getrommelt und seine Füße wie in spastischen Zuckungen bewegt. Nachdem er die Mitteilung entgegengenommen hatte, fragte er:
"Soll ich zu diesem Zweck besondere Worte oder Sätze auswendig lernen?S. 55
"Nach und nach entdeckte ich, daß das, was ich >Erziehung< nannte, in seiner Vorstellungswelt aus den >abhärtenden< Erlebnissen bestand, mit deren Hilfe er >Fortschritte< machte. Sie bestanden im wesentlichen im Aufruhr gegen all das, was sein Heranwachsen gewesen war, vielleicht auch gegen den Hof, an dem er lebte. Es gab keine Verirrungen, keine Ausschweifungen, keine Roheiten, derer er sich nicht als Mittel dazu bediente. Für ihn war dies alles in dem Ausdruck >ein Kerl sein< zusammengefaßt, das heißt befreit von Vorurteilen, Würde und Pedanterie. Ich beschwor ihn damals, seine Aufgabe bestehe darin, dieses Reich wieder auf die Beine zu bringen.
Das Reich, das er erbte, war nach fünfundachtzig Jahren Frieden höher verschuldet und schwerer von Steuern belastet, als es nach einem Krieg gewesen wäre. Er sollte, beschwor ich ihn, versuchen, die Staatsschulden abzutragen und die Last des Volks zu erleichtern, ein Ziel, das er erreichen könnte, wenn er all die gänzlich unnötigen Ausgaben des Hofstaats striche, das Heer verkleinerte, die Bauern in Dänemark befreite und durch eine vernünftige Gesetzgebung Norwegens Fischerei, Bergbau und Waldwirtschaft förderte."
Die Antwort war, daß er in seine Gemächer ging und onanierte. Die Königin wollte er nicht besuchen Vor ihr empfand er nichts als Schrecken.
Christian hatte viele Gesichter. Eins leuchtet von Schrecken, Verzweiflung und Haß. Ein anderes ist gesenkt, ruhig, über die Briefe gebeugt, die er an Herrn Voltaire schreibt, den Mann, der ihn, wie er selbst sagt, zu denken gelehrt hat."S. 68
Struensee hatte daraufhin gelächelt und ihn fragend angesehen.
"Dem Höchsten? Ich dachte nicht, daß Sie dem Glauben an den Höchsten so innig zugetan sind?"
"Die Macht ist König Christian VII. von Dänemark gegeben worden, Doktor Struensee. Gegeben worden. Wer sie ihm auch gegeben haben mag, er hat sie. Nicht wahr?"
"Er ist nicht geisteskrank", hatte Struensee nach einem Moment des Schweigens gesagt.
"Aber wenn es so ist. Aber wenn es so ist. Ich weiß es nicht. Sie wissen es nicht. Aber wenn es so ist ... dann schafft seine Krankheit ein Vakuum im Zentrum der Macht. Derjenige, der in dieses Vakuum eintritt, hat eine phantastische Möglichkeit."
Sie standen beide schweigend.
"Und wer", fragte schließlich Struensee, "wer sollte wohl dort eintreten können?"
"Die üblichen. Die Beamten. Der Adel. Die, die einzutreten pflegen."
"Ja, natürlich."
"Oder jemand anders", hatte Herr Diderot da gesagt.
Er hatte Struensee die Hand gegeben, war in den Wagen gestiegen, hatte sich dann herausgebeugt, und hinzugefügt:
"Mein Freund Voltaire pflegt zu sagen, daß die Geschichte manchmal durch einen Zufall einen einzigartigen Spalt in die Zukunft öffnet."
"Ja?"
"Dann muß man sich hindurchdrängen." S. 136
Als Christian eines Abends, wieder einmal, Struensee von seinen Alpträumen um den schmerzhaften Tod des Segeanten Mörl erzählte und sich in Einzelheiten verlor, hatte Struensee überraschend im Raum auf und ab zu gehen begonnen und den König wütend aufgefordert aufzuhören.
Christian war bestürzt gewesen. Solange Reverdil da gewesen war, bevor er zur Strafe ausgewiesen wurde, hatte er hierüber sprechen können. Jetzt schien Struensee die Fassung zu verlieren. Christian hatte gefragt, warum. Struensee hatte nur geantwortet:
"Majestät, Sie verstehen nicht. Und haben sich nie darum bemüht zu verstehen. Obwohl wir uns so lange kennen. Aber ich bin kein mutiger Mensch. Ich habe Angst vor Schmerzen. Ich will nicht an Schmerzen denken. Ich bin leicht zu erschrecken. So ist es, wie Majestät hätten wissen können, wenn Majestät interessiert gewesen waren. "
Christian hatte Struensee während dieses Ausbruchs verwundert angesehen und dann gesagt:
"Ich habe auch Angst vor dem Tod."
"Ich habe keine Angst vor dem Tod!!!" hatte Struensee ungeduldig erwidert. "Nur vor Schmerzen. Vor Schmerzen!!!"
Aus dem Spätsommer 1770 gibt es eine Zeichnung von Christians Hand, die einen Negerjungen darstellt.
Er zeichnete sonst sehr selten, doch die Zeichnungen, die erhalten sind, verraten große Begabung. Die Zeichnung stellt Moranti, den Negerpagen dar, der dem König gegeben wurde, um seine Melancholie zu verringern, und "damit er jemanden zum Spielen hatte".
Keiner sollte sich so ausdrücken. Melancholie war das richtige Wort, nicht Spielkamerad. Aber Brandt, von dem die Idee stammte, drückt sich genau so aus: einen Spielkameraden für die Majestät. Eine Stimmung dumpfer Resignation hatte sich um den König verbreitet. Schwer war es, unter den Hofleuten Spielkameraden zu finden. Der König schien alle Energie des Tages auf die Stunde zu konzentrieren, in der er die Dokumente und Schreiben unterzeichnete, die Struensee ihm vorlegte; aber nachdem sie sich für den Tag getrennt hatten, verfiel er in Apathie und versank in sein Gemurmel. Brandt war der Gesellschaft des Königs müde geworden und hatte einen Negerpagen als Spielzeug für ihn gekauft. Als er um die Erlaubnis bat, hatte Struensee nur resigniert den Kopf geschüttelt, aber eingewilligt.
Struensees Stellung am Hof war jetzt so selbstverständlich, aß es auch für den Kauf von Negersklaven seiner Zustimmung bedurfte. S. 180/181
Am dritten Nachmittag las er den Essay, der mit dem Satz beginnt: "Sittlichkeit nennt man das, was mit der zu einer bestimmten Zeit herrschenden Mode übereinstimmt, und Unsittlichkeit das, was im Gegensatz dazu steht." Dann las er den Essay Nummer 20 in Buch IV, der von dem Satz eingeleitet wird: "Die seltsamste Eigenschaft des Menschen ist die, daß er auf das, was am strengsten verboten ist, die größte Lust bekommt."
Sie fand, daß er eine schöne Stimme hatte.
Sie mochte auch Ludwig Holberg. Es war, als verschmölzen Struensees Stimme und die Holbergs zu einer Einheit. Es war eine dunkle, warme Stimme, die zu ihr sprach von einer Welt, die sie bis dahin nicht gekannt hatte; die Stimme umschloß sie, es war, als ruhe sie in einem lauwarmen Wasser, und das schloß den Hof und Dänemark und den König und alles aus; als schwimme sie im warmen Meer des Lebens und sei ohne Furcht.
Sie fand, daß er eine schöne Stimme hatte. Das hatte sie ihm auch gesagt.
"Sie haben eine schöne Stimme, Doktor Struensee."
Er las weiter.
Sie hatte ein Abendkleid getragen, es war ein leichter Stoff, weil es ein warmer Spätsommer war, ein sehr leichter Stoff, den sie aufgrund des milden Sommerabends gewählt hatte. Sie hatte sich darin freier gefühlt. Das Kleid war ausgeschnitten. Ihre Haut war sehr jung, und manchmal, wenn er vom Buch aufsah, hatte sein Blick diese Haut gestreift; dann war er bei ihren Händen verweilt, und Struensee hatte sich plötzlich eines Gedankens erinnert, wie diese Hand sein Glied umschloß, eines Gedankens, den er einmal gehabt hatte, und dann hatte er weitergelesen.
"Doktor Struensee", hatte sie plötzlich gesagt, "Sie müssen meinen Arm berühren, wenn Sie lesen."
"Warum", hatte er nach einer kurzen Pause gefragt.
"Weil die Worte sonst trocken werden. Sie müssen an die ~aut rühren, dann kann ich verstehen, was die Worte bedeuten "
Da rührte er an ihren Arm. Der Arm war unbedeckt und sehr weich. Er wußte auf einmal, daß er sehr weich war.
"Bewegen Sie Ihre Hand", hatte sie gesagt. "Langsam."
"Majestät", hatte er gesagt, "ich fürchte ..."
"Bewegen Sie sie", hatte sie gesagt.
Er hatte gelesen, die Hand war sanft über ihren bIoßen Arm geglitten. Da hatte sie gesagt:
"Ich glaube, Holberg sagt, daß das am strengsten Verbotene eine Grenze ist."
"Eine Grenze?"
"Eine Grenze. Und da, wo die Grenze ist, entsteht Leben und Tod, und deshalb die größte Lust."
Seine Hand hatte sich bewegt, da hatte sie seine Hand in ihre genommen und sie an ihren Hals geführt.
"Die größte Lust", hatte sie geflüstert, "ist an der Grenze. Es ist wahr. Es ist wahr, was Holberg schreibt."
"Wo ist die Grenze", hatte er geflüstert.
"Suchen Sie sie ", hatte sie gesagt.
Und da war das Buch aus seiner Hand gefallen.
Sie, nicht er, hatte die Tür verschlossen.
Sie war weder furchtsam noch linkisch gewesen, als sie ausgezogen hatten; sie empfand es noch immer so, als befinde sie sich in diesem warmen Wasser des Lebens, und nichts gefährlich und der Tod ganz nahe und alles deshalb erregen Alles erschien sehr weich und langsam und warm.
Sie hatten sich nebeneinander gelegt, nackt, in dem Bett im hinteren Teil der Hütte, in dem der französische Philosoph hätte liegen sollen, aber nie gelegen hatte. Jetzt lagen sie dort. Es erfüllte sie mit Erregung, dies war ein heiliger Ort, und sie würden über eine Grenze gehen, es war das äußerste Verbotene, das Alleräußerste. Der Ort war verboten, sie war verboten, es war fast vollkommen.
Sie hatten aneinander gerührt. Sie hatte mit ihrer Hand sein Glied gerührt. Sie hatte es gemocht, es war hart, aber sie wartete, weil die Nähe zur Grenze so erregend war und sie die Zeit festhalten wollte.
"Warte", hatte sie gesagt. "Noch nicht."
Er hatte an ihrer Seite gelegen und sie gestreichelt, sie atmeten ineinander, ganz ruhig und lustvoll, und sie verstand auf einmal, daß er war wie sie. Daß er atmen konnte wie sie. Im gleichen Atemzug. Daß er in ihren Lungen war und daß dieselbe Luft atmeten. S. 198-200
Lesezitate nach Per Olov Enquist - Der Besuch des Leibarztes