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PROLOG

Santa Ynez, November 2025

Ich verfüttere gerade Kraftkekse und Hühnerrücken an die Hyäne und tue mein Bestes, um nach dem letzten Unwetter einigermaßen aufzuräumen, als das Telefon klingelt. Es meldet sich Andrea. Meine Exfrau Andrea Knowles Cotton Tierwater, meine Ehegattin von vor tausend Jahren, als ich noch jung und kraftvoll und gnadenlos männlich war - die Frau, die sich damals, als wir noch glaubten, so etwas hätte einen Sinn, regelmäßig an Kräne, Bulldozer und siebenhunderttausend DoIlar teure Holzharvestermaschinen ketten ließ, die Frau, die mir half, meine Tochter großzuziehen, die Frau, die mich in den Wahnsinn trieb. Verdammt noch mal. Wenn schon jemand von damals wiederauftaucht, wieso dann nicht Teo? Bei dem wäre es leichter - ihn könnte ich einfach umbringen. Peng. Dann hätte Lily auch gleich was anderes als Hühnerfleisch zum Abendessen.
Auf jeden Fall sind hier überall Bäume umgestürzt, und der Schlamm zerrt an meinen Gummistiefeln wie ein gierig saugendes Maul, das mich irgendwann bestimmt in den Abgrund reißen wird, aber einstweilen noch nicht. Mag sein, daß ich fünfundsiebzig hin und meine Schultern sich anfühlen, als wären sie mit Angelhaken an den Gelenken befestigt, aber die neue Niere, die sie mir eingesetzt haben, verrichtet ihre Klärfunktion ganz hervorragend, danke der Nachfrage, und ich kann immer noch besser arbeiten als die meisten der verzärtelten Halbidioten hier. Außerdem kann ich Dinge, die nicht jeder kann - ich bin ein Tierexperte, von denen sind heutzutage nicht mehr viele übrig, und Maclovio Pulchris, mein Chef, weiß das zu schätzen. Übrigens will ich hier nicht unnötig mit Namen um mich werfen, keineswegs - ich nenne nur die Fakten. Mir untersteht seine Privatmenagerie, die letzte dieser Art in unserem Teil der Welt, und es ist ein wichtiges - ich korrigiere: ein essentielles - Reservoir für das Zoocloning und die Verteilung dessen, was von den bekannten Säugetierarten noch geblieben ist. Und man kann sagen, was man will, über Popstars im allgemeinen oder die Qualität von Macs Musik im speziellen oder ...S. 9


Lesezitat nach T. C. Boyle - Ein Freund der Erde



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beim Hanser-Verlag


Bookinists Buchtipp zu


Riven Rock

von Tom Coraghessan Boyle


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Drop City

von T C Boyle
© 2003


APOKALYPTISCH -
typisch Boyle

T. C. Boyle - Ein Freund der Erde

Oft gibt es für den Bleistift eines Rezensenten nur wenige Sätze, die er sich am Rande der Lektüre anstreicht. Bei T.C. Boyle verhält sich das gerade umgekehrt.
Ein wahrer Titan des bildhaften Vergleichs, pointiert, witzig, ungeschminkt und zielgenau treffen seine Sätze das Zwerchfell des Lesers.

Offenbar ist er mit seinem Roman "Ein Freund der Erde" am geplanten Ende seines bisherigen Schaffenszyklus angelangt. Eine Geschichte der Amerikaner scheint er sich mit seinen Romanen vorgenommen zu haben: Begonnen mit "Worlds End" zur Zeit der Kolonialisierung gelangt er nun bis ins Jahr 2025.
Apokalyptisch beschreibt er die kalifornische Zukunft - nicht der atomare Winter hat uns eingeholt, sondern der Treibhauseffekt und der damit einhergehende Zusammenbruch der Biosphäre.
Sein (vermutlich in Teilen autobiografisch angelegter) Romanheld Ty Tierwater hält in mehreren Zeitblenden Rückschau auf sein Leben als radikaler Ökoterrorist.

Ohne Krankenversicherung oder Rentenanspruch arbeitet er heute (2025) 75jährig als Mädchen für alles im Privatzoo des exzentrischen Multimillionärs aus dem Popgeschäft namens Mac. (Dass jener gelegentlich mit einer Atemschutzmaske und ständig in Begleitung zweier Bodyguards in seinem quadratkilometergroßen Wohnhaus herumläuft, ist sicher eine absichtlich gewählte Parallele zu einer derzeit lebenden Popikone.)

Macs Traum ist es mit Zoocloning zu retten, was von den bekannten Säugetierarten noch verblieben ist: Er beherbergt den letzten patagonischen Fuchs, einige inzüchtige afrikanische Löwen und eine überlebende Schabrackenhyäne - die reinste Fressmaschine aus dem Zoo von San Diego.
Außerdem einen Brillenbären, ein paar Nabelschweine und einen Großen Ameisenbären, der auf Formosa-Termiten steht.

So ungefähr kann man sich die Entourage vorstellen, mit der Boyle den ganzen Schlamassel beginnen lässt.
Boyle-Fans wissen, dass über seine Romanhelden selten ein Unglück allein hereinbricht. Genau wie bei John Irving oder in Boyles Romanen "Wassermusik" und "Wellville" bricht die Welt in einem multiorgialem Fiasko zusammen: Sturmflut, Orkan und Tys Ex-Ehefrau gesellen sich zur Schlaflosigkeit und der trotzt vorherrschender Implantationstechnik sich anschleichenden Gicht.

Auch wenn es heute nur noch Tilapia-Sushi aus Flusswels und Sake zu essen und trinken gibt, und Rindfleisch wie Bier zu den ausgestorbenen Dingen gehört, Tys Exfrau ist trotz ihres Alters immer noch eine richtig geile Braut: "O ja Andrea. Sie hat mich geschmort in diesem Schmelztiegel, mit ihren glühenden Augen und dieser Stimme wie heiße Asche, und mit ihrem Körper, ihrem wunderschönen, festen Körper einer Rucksackreisenden, den stämmigen Beinen, den fraulichen Hüften und allem anderen."

Doch so ganz uneigennützig ist selbstverständlich ihr plötzlicher Besuch bei Ty nach -zig Jahren nicht: In ihrem Schlepptau bringt sie April Wind mit, eine Kröten-Totem-tragende Tantra-Tussi, die mit dem letztverbliebenen kontinentalamerikanischen Verlag Bertelsmann Inc einen Autorenvertrag für eine Romanbiografie seiner als jahrelange Baumbesetzerin (Vorbild war vermutlich Julia Hill - The Luna Tree sit) berühmt gewordenen, verstorbenen Tochter Sierra Tierwater hat.

Schriftstellerisch ausgefeilt reflektiert Ty in mehreren Rückblenden wie das damals war, 1989, als er Andrea traf und 2001, als seine Tochter starb.

Ein krudes Bild zeichnet sich ab - mit immer gewaltsameren Aktionen hatte sich Ty gegen den nahenden Ökozid gewehrt und immer öfter und länger saß er dafür im Knast.

Heute ist er nun einer von jenen, die von sich behaupten können, dass sie alles so kommen sahen, doch nützen wird ihm das auch nichts.
Im Gegenteil - eine persönliche Katastrophe seines Brötchengebers Mac (mehr soll hier nicht verraten werden), verhagelt ihm vollends den ärmlichen Lebensabend.
Mit dem Geländewagen, einigen der letzen europäischen Rotweinflaschen und unbezahlbarem, tiefgefrorenem Rinderfilet aus den seuchenfreien 90er Jahren verlässt er die ruinierten Fragmente seines ehemaligen Arbeitsplatzes und flüchtet sich zusammen mit Andrea in die Berge.

Und dort, in einer verfallenen Wochenendhütte, schließt sich der Kreis: Ty O´Shaughnessy Tierwater macht mit den Großkonzernen, die er zeitlebens mit seinen Ökoaktionen bekämpft hatte, seinen Frieden. General Electric elektrifiziert zuletzt sogar seine Berghütte mit Holzzuber- ein elend frustrierender Romanschluß.

Obwohl die Story von Boyle im Grunde gar nicht viel hermacht, der Autor weder moralisierend, noch analysierend den Zeigefinger hebt, sondern eben nur beschreibt wie ein Durchschnitts-75-Jähriger 2025 die Welt betrachtet, ist sein Buch durch und durch eine Anklageschrift, das in seinen Nebensätzen voll triefschwarzen Humor den Werdegang, ja den Niedergang der Ökologie und Teilen der Zivilisation beschreibt.

Im geschilderten Alltagsgeschehen liegt der Frust ebenso wie in der Machtlosigkeit all der abgelaufenen Umweltschutzaktionen mit der die Erde vor 11 Mrd. Menschen und der Gier der Konzerne hätte gerettet werden sollen.

Daneben ist Boyle sicher einer der größten, zeitgenössischen amerikanischen Schriftsteller, beinahe jedes seiner Bücher eine absolute, literarische Delikatesse, ein kalifornischer 68er, dessen sprachgewaltige Botschaft seine Mitbürger aber trotzdem nicht gehindert hat George W. Bush zum Präsidenten zu wählen - ein großer Fehler - wie wir aus der Warte des Ty Tierwater wissen.

Genießen Sie Boyle, solange seine Bücher noch bei Verlagen wie Hanser erscheinen können. HS


T. C. Boyle - Ein Freund der Erde
© 2000, A Friend of the Earth
übersetzt von Werner Richter
© 2001, München, Hanser Verlag, 357 S., 19.90 € (HC)
© 2003, München, dtv, 400 S, 9.50 € (TB)


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Fortsetzung des Lesezitats ...

Ich weiß nicht - um meine Kontokarten zu überziehen? Mir ins Hirn zu scheißen? Die Erde zu retten?"
Lily rekelt sich und gähnt, zeigt mir ihre langen gelben Fangzähne und die großen, malmenden Molaren weiter hinten im Maul. Eigentlich sollte sie draußen auf der Steppe sein und Giraffenknochen knacken, das Mark aus den Wirbelkörpern saugen, Hufe zernagen. Nur daß es keine Steppe gibt, nicht mehr jedenfalls, und Giraffen auch nicht. In meinem Hirn hat sich etwas losgerissen und schreit: ES IST ANDREA! Und sie ist es. Andreas Stimme meldet sich wieder. Nein, du Narr", sagt sie. "Aus Liebe."

Ja, ich bin ein Narr, ein Narr der tausend Kostüme und bunten Hüte, und zum Beweis dafür willige ich in ein Treffen mit ihr ein, ohne viel Gegenwehr und nach nur höchst kümmerlichem Vorspiel, denn die vertraute Stimme wütet in meinem Kopf wie eine Faust, die einen abgenagten Knochen hält. Wann genau haben wir uns zum letztenmal gesehen? Entweder 2002 oder 03. Wir gingen damals gemeinsam klettern, wir tanzten, bis die Musik uns taub werden ließ, und wir vögelten, bis die Vögel erwachten und sangen und an Altersschwäche starben. Einmal brachten wir dreißig Tage nackt in der Sierra Nevada zu, und wenn das auch nicht gerade so wie in Die blue Lagune ablief, war es doch eine Erfahrung, die man nie vergißt. Und, na ja, meine edelsten Teile sind durchaus noch in Ordnung, Viagra Supra hab ich nicht nötig und auch keine Penisimplantate, besten Dank, und ich frage mich, wie sie nach so langer Zeit wohl aussieht. Sie ist acht Jahre jünger als ich, und falls die Regeln der Mathematik nicht ebenso zusammengebrochen sind wie alles andere, dann müßte sie jetzt siebenundsechzig sein, was aus meiner Perspektive ein höchst interessantes Alter für eine Frau ist. Also klar, ich werde mich mit ihr treffen.
Aber nicht liier. So ein großer Narr bin ich auch wieder nicht. Jch vereinbare für heute abend sechs Uhr ein Stelldichein in Swensons WeIs-und-Sushi-Restaurant in SoIvang, trotz des strömenden Regens und der ausgewaschenen Straßen, denn ich hab den Geländewagen von Mac, und was sie hat oder wie sie hinkommt, ist nicht mein Problem. Jedenfalls noch nicht.
Aber sie wird da sein, darauf wette ich. Sie will irgendwas -Geld, ein Bett zum Übernachten, Kleider, eine gute Flasche Wein. S. 12

Im nächsten Moment bin ich im Schlafzimmer und reiße einen Pullover aus der Schreibtischschublade (einen schwarzen Rolli, um die Truthahnlappen unter meinem Kinn zu verbergen), denke mir, keine Zeit zum Duschen, bin auch so naß genug. Von einem Haken im Schrank greife ich mir eine halbwegs saubere Jeans, schlüpfe in meine Cowboystiefel aus Kunstleder und stürze dann zur Tür hinaus - aber nicht ehe ich das Ensemble mit der Krönung komplettiere: der roten Baskenmütze, die sie mir geschickt hat, als ich zum zweitenmal ins Gefängnis mußte. Ich ziehe sie tief in die Stirn, wie die Strickmütze des Öko-Terroristen. Um der alten Zeiten willen.

Unwetter oder nicht, draußen sind jede Menge Leute unterwegs:
Pendler, Einkäufer, Reparaturtearns, Teenager, die darauf abfahren, daß die Welt zu Scheiße wird, und ich muß achtgeben auf den Wind, der den Wagen beutelt, auf die Schlaglöcher und Bodenwellen und die ausgewaschenen Stellen. Vor fünfundzwanzig Jahren war das hier Wildnis, wo man Luchse, Maultierhirsche, Kaninchen, Wachteln und Füchse finden konnte, bevor alles niedergemetzelt und weggewildert wurde. Ich erinnere mich noch an Pferderanches, endlose Weideflächen in den Hügeln, riesige Grundstücke wie das von Mac, sogar hie und da eine Emu-Farm (Magerer als Rindfleisch und nur halb soviel Kalorien, probieren Sie noch heute einen EmuBurger!). Inzwischen sind dort Apartmentsiedlungen. Graue, feuchte Hochhäusercanons. Und wer lebt in diesen Apartments? Verbrecher. Fleischfresser. Hautkrebspatienten. Leute, die über Tiere - oder über die Natur oder die WeIt, wie sie früher war - nicht mehr wissen, als ihre Computer sie wissen lassen.
Na schön. Machen wir es kurz. Wir schreiben das Jahr 2025, ich heiße Tyrone O'Shaughnessy Tierwater, ich bin fünfundsiebzig und halb irisch-katholisch, halb Jude. Geboren wurde ich in dem wohlhabendsten Vorort der größten Stadt der Welt, zu einer Zeit, als es noch keine Versorgungsengpässe - jedenfalls nicht in diesem Land, keine Unwetter (außer den normalen), keinen sauren Regen und genügend Wildnis und dichten Urwald, wo man tief durchatmen konnte. Momentan bin ich auf dem Weg zu meiner Exfrau Andrea, um mit ihr eine Portion Wels-Sushi aus dem Zuchtteich zu probieren, ein paar zu heben oder vielleicht sogar mit ihr ins Bett zu hüpfen, um der guten alten Zeiten willen. Oder aus Liebe. So hatte sie es doch ausgedrückt? Aus Liebe? Die Scheibenwischer bewegen sich im Takt zu meinem arrhythmisch schlagenden Herzen, dem Wind platzen bald die Backen, und der fette Olfputt-Geländewagen stampft wie ein Schiff auf hoher See - und in meinem Kopf habe ich, festgeklebt wie ein Kaugummi an der Schuhsohle, den Fetzen eines Schlagers von vor so langer Zeit, daß ich gar nicht mehr weiß, wie er hieß oder wo ich ihn aufgeschnappt habe. Down the alley the icewagonflew... Arlene took me by the hand and said, Won ,tyou be my man?
Dieser Ausflug könnte interessant werden.

Der Parkplatz ist überschwemmt, das sanft schwappende, kackbraune Wasser steht gut einen halben Meter hoch, und das war's wohl für meine Cowboystiefel - die ich nur aus Eitelkeit angezogen hab, dabei hätten es die Gummitreter ebensogut getan. Ich sitze eine Minute lang da und verfluche meine Blödheit, während die trüben mickrigen Lämpchen von Swensons Kneipe durch den Schleier der regenschlierigen Windschutzscheibe locken. Der benachbarte mexikanisch-chinesische Imbiß ist dauerhaft mit Sandsäcken gesichert und duster wie eine Höhle, dafür stehen die Computerwerkstatt und der Supermarkt gleich daneben in luftiger, trockener Höhe auf drei Meter langen Stützpfählen, die aus dem gebrochenen Hafendamm von Gaviota stammen. Der Regen prasselt jetzt stärker herab - logisch - und spielt Schlagzeug auf dem Dach des Geländewagens, der Wind rüttelt kontrapunktisch an der Fahrerkabine und packt alles, was nicht niet- und nagelfest ist, um es an ein geheimes Ziel zu tragen, zum Friedhof der fortgewehten Sachen. Hier oben in den Hügeln, wo sich die Unwetter gerne festsetzen, nachdem sie vom Meer heraufgerast sind, ist jedes Dach mit Stahltrossen gesichert, und in die Firma, die das anbietet, sollte man sein Geld stecken - Bornbenfest, der Fachmann fürs Dach, mit Langzeitgarantie. Natürlich ist alles, was ich je zum Investieren besaß, jeder Penny, den ich mal verdient habe, und aIles, was mir mein Vater hinterlassen hat, an Andrea und Teo und meine glutäugigen Kumpane von Earth Forever! gegangen.
Nie davon gehört? So eine radikale Umweltgruppe in den Achtzigern und Neunzigern. Bekannt ür das Spicken von Bäumen mit Stahlnägeln. Öko-Sabotage. S. 17-18

"Kein Problem, Sir, kein Problem", versichert Shiggys Tochter gerade einem allein sitzenden Gast in der Ecke, "das haben wir gleich aufgewischt."
Solcherart abgelenkt - meine Stiefel sind garantiert hin -, ist mir die Frage entfallen, die ich in der feuchten Luft dieser Kneipe habe hängenlassen, ich habe vergessen, wo ich bin oder warum oder sogar, wer ich bin, einer dieser kleinen Aussetzer, die in meinem Alter das Leben erträglich machen, trotz Gingko biloba, Koffein und allen nervenstärkenden Mitteln. Volle zehn Sekunden lang habe ich so meinen Bauch vom Hirn abgetrennt. "Er ist tot", sagt Andrea in die Stille hinein.
"Wer?"
"Teo." "Tot? Teo tot?" Da bin ich sofort zurück in der Gegenwart, so wach wie Lily, wenn sie sieht, wie ich in der großen fettigen Tüte nach dem nächsten Hühnerrücken greife. Allmählich gefällt mir die Sache. Auf einmal fühle ich mich phantastisch. Ich möchte Einzelheiten: Hat er gelitten? War es ein langsamer Tod? Hatte er am Ende noch seinen Darm, seinen Pimmel, sein Hirn unter Kontrolle? Ich dachte, dafür braucht's ne silberne Kugel", hörte ich mich sagen. "Oder einen Pfahl ins Herz."
Sie senkt den Blick, der Vorhang fälIt, die Jalousien gehen runter. Sehr leise jetzt: "Es ging schnell."
"Wie schnell?"
Brr, grollt der Wind, brr, brr, brr, und jetzt tropft das Wasser stetig - Teos Geist, sein aalglatter, wäßriger Puls -, es prasselt nur so auf den Tisch herab, gleich links neben meinen Stäbchen. Ich mustere sie, genieße diese Enthüllung, aber der Rücken tut mir weh - er tut schon immer und für immer weh, das geht so, seit ich Mitte Dreißig bin -, und für die Arthritis in meinem rechten Fuß ist der nasse Boden auch nicht gesund. Außerdem habe ich einen voreiligen Ständer. Ich widerstehe der Versuchung rasch auf die Uhr zu sehen. "Wie schnell?" wiederhole ich.
"Ich möchte nicht darüber sprechen", sagt sie, "weil ich nicht deswegen - das wollte ich nicht mit ...... also, ey war ein Meteor, okay?" Ich kann mir das Lachen nicht verkneifen. Laut und schallend explodiert es von meinen unbeherrschten Lippen und läßt ein Pärchen zwei Tische weiter zusammenzucken. "Du nimmst mich auf den Arm?" S. 27

Sarita Ynez, November 2025

Als wir aufwachen, regnet es immer noch - oder als ich aufwache jedenfalls. Ich bin vor ihr wach, lange vor ihr, das ist ja klar. Ich fühle mich richtig historisch dabei. Fühle mich nach Eiern mit Speck, doch diese Nahrungsmittel sieht man nicht mehr allzu häufig (Eier vielleicht noch, aber Speck kann man vergessen), und da liegt ihre Handtasche auf dem Tisch, so groß wie ein Elefantenschädel und vollgestopft mit benutzten Taschentüchern, Kontoauszügen, Kaugummipapier, Schlüsselketten mit lauter Schlüsseln zu Türen von Häusern, die es gar nicht mehr gibt. Ich bin sozusagen Archäologe, der eine Tonscherbe nach der anderen aus dem Misthaufen meines Lebens buddelt. Andrea schläft gern lange. Das kenne ich. Damit habe ich gelebt. Aber über zwanzig Jahre lang gab es das nicht, in meiner Welt nicht. Und nun hatten wir eine, sagen wir mal, interessante Nacht, enorm stimulierend, eingetunkt in Nostalgie und Herzschmerz, eine Nacht, in der letztendlich, wenn auch nur kurz, Sex eine Rolle spielte, und insgesamt kann ich wahrlich nicht klagen. Ich glaube, ich pfeife sogar vor mich hin, während ich zwischen den platschenden Eimern und Dosen in meiner Wohnküche herumhüpfe, um etwas Nettes zum Essen für sie vorzubereiten, wenn sie doch noch aufwacht.
Wie ich mich fühle Feucht. Feucht in den Tränengängen und den Keimdrüsen, ich bin aufgequollen wie ein Lungenfisch, der einen ganzen langen staubtrockenen Sommer hindurch im Sand begraben war, bis zu dem Tag, als der Himmel aufbricht und die Welt wieder naß wird. Der Duft des Kaffees trägt mich zurück - selber trinke ich keinen mehr, ist zu teuer und außerdem spielt mein Magen davon verrückt -, und ich spüre, wie ich derart tief in der Vergangenheit versinke, daß ich gleich darin verschwinden werde, ohne daß sich auch nur eine Welle kräuselt. Sie schnarcht. Ich kann es hören - kein leises Einsaugen und Ausstoßen, sondern ein echtes Durchlüften der Atemwege, ein in sich so wahres Geräusch, wie es auch Lily hervorbringen könnte.
Der Regen patscht mit seiner breiten Hand aufs Dach, und irgend etwas, das irgendwer irgendwo nicht gut befestigt hat, knallt knapp oberhalb des Fensters gegen die Wand, die Welt erzittert, und Andrea schläft. Es ist ein starker Augenblick.
Leider dauert unsere Idylle nicht viel länger als diesen Augenblick, denn ehe ich noch überlegen kann, ob ich ihr den Thunfischsalat serviere, den ich die letzten drei Jahre lang für eine besondere Gelegenheit im Lebensmittelkompressor aufbewahrt habe, oder sogar die allerletzte Dose mit Krabben aufmachen soll, weil das Leben ja nicht ewig währt, vor allem, wenn man eine Krabbe ist, klopft Chuy an der Tür. Er ist aufgeregt. Tänzelt herum, bewegt Kiefer, Lippen und Zunge und versucht, ohne Erfolg, mir etwas mitzuteilen. Er trägt weder Mütze noch Mantel, das Haar klebt ihm am Kopf, und sein Blick wirkt so nackt, daß man beinahe durch ihn hindurch auf sein Dursban-verkorkstes Gehirn sehen kann. Wie alt er ist? Er weiß es nicht, erinnert sich nicht einmal an den Ort seiner Geburt, aber das Land, da ist er sich ziemlich sicher - fast "hunnertzehn Prozent, wenn nich hunnertzwanzich" -, war Guatemala. Ich bin nicht mehr so gut wie früher darin, das Alter von Menschen zu schätzen, weil heute alle außer den Altalten für mich jung aussehen, aber ich würde ihn auf vierzig, fünfundvierzig veranschlagen. Jedenfalls steht er vor meiner Tür, und was er mir sagen will, lautet mehr oder minder: "Sind ein paar Leute... Leute da draußen, Mr. ..... "
"Was für Leute?" Ich stehe in der offenen Tür, der Himmel ist wie ein umgedrehtes Goldfischglas, riesige Windpropeller fegen Zweige, Papier, Laub über den Sumpf des Platzes vor dem Haus, hinter mir der unerdenkliche Kaffeeduft, der Heizlüfter; mein Bett, Andrea. Chuy hätte ebensogut unter den Niagarafällen stehen können. Meine Hausschuhe sind naß. Der Saum des Bademantels auch. Alles ist naß, immer - naß und verschimmelt, Bücher zerfallen auf den Regalen, Nacktschnecken kriechen aus der Teekanne, selbst unsere Stühle verfärben sich unter dem Hintern grün und setzen Triebe an. Entnervt packe ich Chuy beim Kragen und zerre ihn herein. Ich bin kein geduldiger Mensch.
"Die, diese Leute.. ." Eine eher spastische Geste in Richtung der Apartmentsiedlung.
"Die Typen von Lupine Hill?"
"Ellos, si, die Leute, die, die .... " . S. 56-57

Trotzdem, da drüben auf der Couch, das ist April Wind, und selbst wenn ich jetzt lache, weiß ich doch genau, daß mir früher oder später ein keckerndes Kichern oder ein feuchtfröhlicher Lacher in der Kehle steckenbleiben wird wie eine Fischgräte. "Erinnert ihr euch noch", sagt Andrea gerade, und wir erinnern uns alle drei, mit breitem Grinsen, an den Tag am Tehachapi Pass, heiß und trocken und mit einem so blauen Himmel, als wär's das Auge von jemandem - na schön, das Auge Gottes, falls ER zu existieren ge-ruht -, und an den Schock dieses Flusses, die Instant-Eiseskälte. Wir rannten wieder mal den Waldis davon, und irgendwer - Teo? ich? - bestand auf dem Fluß, um sie von der Fährte abzubringen, und wie tief ist er denn? fragte jemand, knietief, allerhöchstens knietief. "Und dann ist Ty von diesem Felsen aus reingegangen, und tauchte wieder auf, prustend wie ein Eisbär!" Ach ja. Ja. Ha-ha.
"Wann war das eigentlich genau?" sinniert April Wind. "Vor oder nach Sierras ... weil ich mich nicht erinnere, daß sie da dabei war, oder irre ich mich jetzt... ?"
Rrrumms! geht der Wind und sucht sich den perfekten Moment aus, um an meine Hütte zu klopfen. (Auftritt Spukgestalt; Abgang Frieden, Vernunft und alIe guten Vorsätze.) Beide sehen mich an, Andrea mit ihrem rekonstruierten Gesicht und dem mitternachts-schwarzen Haar, die Augen so glänzend und reflektierend, daß man sich einseifen und darin rasieren könnte, und April Wind, diese erstaunliche zwergwüchsige Tantra-Tussi mit einem Blick wie zwei Schrauben, die sich in eine Zaunlatte bohren. "Danach", sage ich und horche auf das Plätschern des Regens, das lauter wird, im die Stille zu füllen.S. 97


Ronald Reagan. Ich war damals neun und hatte keine Ahnung, wer das war - Bedtime for Bonzo, Höllenhunde des Pazifik und all die anderen Filme kannte ich noch nicht. Ich sah ihn nur da stehen, anonym und nichtssagend, auffallend nur die erstaunlich glänzende Haarroulade, die er an den Kopf geklatscht trug, und das Motto des Konzerns, für den er den Hampelmann spielte: Unser wichtigstes Produkt heißt Fortschritt. Klar. Sicher doch. Klingt ja ganz sinnvoll, oder? Wir schreiten voran, erobern und entdecken und entwickeln - Stecker rein, Regler rauf -, und das Leben wird immer besser. Und das Haus, das sie für ihn und seine Frau in Pacific Palisades bauen ließen? Gegensprechanlage in jedem Zimmer, automatische Gardinenzuzieher, Elektrogrill und EIektroheckenschere, drei Fernseher, zwei Herde, drei Kühlschränke, zwei Tiefkühltruhen, Wärmestrahler, Überwachungskameras, Waschmaschinen, Trockner, ein einrollbares Markisendach fürs Essen im Freien. Das war Fortschritt. Ebenso wie den Privatisierungsfan und Umweltmuffel James Watt zum Innenminister zu ernennen.

In meinen Därmen grummelt es: Gasbildung, das wird's sein. Wenn ich vollkommen still liege, kann sich der Furz durch die zahllosen verschlungenen Windungen und Krümmungen da unten arbeiten und den unvermeidlichen Weg zum Ausgang suchen. Aber was denke ich da? Das ist Methangas, ein natürliches Umweltgift, das gleiche Zeug steigt von Müllkippen, faulenden Nahrungsbergen und Termitenhügeln auf und verbleibt dann zehn Jahre lang in der Atmosphäre, noch ein Furzvoll für den Treibhauseffekt. Ich bin ein Schwein, und ich weiß es. Jüdische Schuldgefühle, katholische Schuldgefühle, umwelt-öko-antikapitalistische Schuldgefühle: ich kann nicht mal in Frieden einen fahren Iassen. Natürlich sind Schuldgefühle an sich schon Luxus. Im Gefängnis damals haben wir uns nicht gerade übermäßig um die Umweltzerstörung oder die Rechte der Natur gekümmert - oder auch um sonst irgendwas. Sie pferchten uns zusammen wie die Tiere, und wir schissen und pißten und wichsten und bliesen wahre Hurrikans aus unseren Därmen, und wenn die Welt deshalb zusammengebrochen wäre, um so besser: wenigstens hatten sie uns dann rausgelassen.
Zwischen den Böen legt der Regen an Lautstärke zu, und ich höre zu, wie er geduldig die festgezurrten Dachziegel erodiert (vor zwei Jahren hat Mac ein Stahlmaschennetz über das gesamte Dach Schweißen lassen. S. 143

Eier. So ein schlichtes Nahrungsmittel, von der Sorte, wie wir sie für selbstverständlich hielten, die Hauptstütze jeder Frühstücksklitsche in jeder Stadt Amerikas, als Rührei, weichgekocht oder als Spiegelei mit saftigen Fritten dazu. Ich bin mit Eiern aufgewachsen, damals bevor uns klar wurde, was sie in den Arterien anrichten, und auch meine Tochter ist mit ihnen aufgewachsen, weil sie einfach irgendwie Eiweiß zu sich nehmen mußte. Aber wie gesagt, chez Pulchris waren die Eier während der Belagerung knapp geworden. Nachdem wir alle eingezogen waren, hatte die Köchin - sie heißt übrigens Fatima und ihr Mann Zulfikar - eine Woche lang Omeletts und frisch gebackenes Brot serviert, dann aber gingen die Eier aus, und seitdem hatte es nur noch Fleisch, Reis und Gemüse aus der Dose gegeben. Der größere der beiden Als schaffte es am Anfang ein- oder zweimal über den Pulchris River, aber die Supermärkte waren bis auf die nackten Regalbretter leergekauft - nichts übrig außer Maisstärkepulver und eingelegten roten Rüben -, und bald danach konnte nicht einmal mehr der Olfputt die Fluten durchqueren. S. 251

Der Laden ist eher eine Arena als ein Restaurant, überall Köpfe, Stimmengewirr, das Summen und Tröten von Videospielen. Das Motto hier heißt Mexiko - ein klägliches Papageienpärchen und ein halbes Dutzend schlaffe Bananenstauden in gigantischen Töpfen -, der Geruch aber ist eindeutig Fritierfett, hier wird alles fritiert. Ich blute vorn durch mein Hemd. Die Hose klebt mir im Schritt fest vor lauter Schweiß. "Ich wette, die haben keine Bar hier", sage ich.
Andrea antwortet nicht. Sie steht, Augen wie Messer, wie aus dem Boden entsprungen stocksteif vor dem Schild BITTE LASSEN SIE SICH EINEN TISCH ZUWEISEN. Es verstreichen fünf Minuten. Es verstreichen zehn. Wir warten immer noch, obwohl drei Empfangsdamen um die Zwanzig inzwischen ganze Busladungen vor uns plaziert haben. Was da abläuft? Altersdiskriminierung. Wir Jungalten, wir vom Babyboom, die wir mit siebzig so jung und vital sind wie unsere Eltern es mit fünfzig waren, die wir alle Macht besaßen und die Hits der Sechziger erfunden haben, wir sind auf einmal unsichtbar, irrelevant, reine Dekoration in einer überbevölkerten, ressourcenarmen Welt. Was wollen uns diese jungen Leute sagen? Sterbt doch, das sagen sie. Und zwar schnell.
Aber sie kennen Andrea nicht. Im nächsten Moment hat sie eine verdattert dreinblickende Kellnerin mit Raupenfrisur mit der einen großen Hand gepackt und den Geschäftsführer mit der anderen, und prompt werden wir zu einem Tisch geleitet, genau ins Zentrum dieses brodelnden Chaos aus Völlerei und Lärm, tut uns leid, daß Sie warten mußten, kein Problem und guten Appetit. Ich will ein Bier. Ein mexikanisches Bier. Aber es gibt kein Bier. "Tut mir leid", sagt der zwölfjährige Kellner und sieht mich an, als litte ich an Gehirnverknöcherung, "nur Sake."
Was sonst?
Andrea bestellt WeIs-Enchilada und dazu eine Sake-Margarita, und nachdem ich lange zwischen den Wels-Fajitas und bagre aI carbon schwanke, ehe ich mich für ersteres entscheide, erhebe ich mein Glas mit Sake on the rocks und stoße es gegen den Salzrand der Margarita. "Auf uns", schlage ich vor, "und unser neues Leben in den Bergen."
"Ja", sagt sie, ein leises Lächeln auf den Lippen, und ich denke darüber nach, über unser gemeinsames Leben, wie es sich vor mir ausbreitet, in den Fenstern die bleiche, windgepeitschte Sonne. S. 336

Lesezitate nach T. C. Boyle - Ein Freund der Erde




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weitere Titel von
T. C. Boyle:

Taschenbuch:


Wassermusik

© 1990


Worlds End

© 1992


Grün ist die Hoffnung

© 1993


Willkommen in Wellville

© 1994


Der Samurai von Savannah

© 1995


America

© 1998


The Tortilla Curtain
(America)

© 1999


Riven Rock

© 200


Kurzgeschichten
(Taschenbuch)


Mein Abend mit Jane Austen

© 19xx


Wenn der Fluß voll Whisky wär

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Greasy Lake und andere Geschichten

© 1993


Der Fliegenmensch und andere Stories

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Kurzgeschichten
(gebunden)


Wenn der Fluß voll Whisky wär

© 1991


Tod durch Ertrinken

© 1995


Fleischeslust

© 1999


gebunden:


Der Samurai von Savannah

© 1992


Willkommen in Wellville

© 1993


America

© 2000


Ein Freund der Erde

© 2001


AUDIOBOOK


Hinter deiner Schulter geht die Welt unter
Töne zu Texten von TC Boyle

© 1999

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© 8.Mai 2001 by
Thomas Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de