Ich könnte ihn mit einem Fleischermesser erstechen, dachte
sie jetzt und schob die geballten Fäuste durch das Wasser, als
stieße sie mit jeder Armbewegung die mindestens dreißig Zentimeter lange Klinge ihrem Mann mitten ins Herz. Als sie am
Ende des Beckens wendete, um die nächste Bahn in Angriff zu
nehmen, fiel ihr ein, dass es vielleicht einfacher wäre, Jake mit
einem wohlberechneten Schubs die Treppe hinunter ins Jenseits zu befördern S. 5
Kirn hatte bereits Probleme genug. Blind tappte sie aus der Küche hinaus und ging benommen nach oben. Im Schlafzimmer
schlug sie die blaue Steppdecke auf und kroch voll bekleidet in
das frisch gemachte Bett. Dort lag sie immer noch, die Decke bis
zum Kinn hochgezogen, als es eine halbe Stunde später läutete.
Gleich darauf hörte sie das Geräusch des Türschlüssels, und
dann machte unten jemand auf.
"Mattie?", rief Jake aus dem Vestibül. "Mattie, ich bin's. Bist
du fertig? Wir müssen fahren."
Mattie richtete sich auf, fuhr sich durch das dunkelblonde
Haar, das links platt an ihrer Wange klebte, stopfte die grüne Seidenbluse in ihre schwarze Hose und holte einmal tief Atem. Sie würde Jake die Hausschlüssel abnehmen müssen, schoss es ihr durch den Kopf.
"Ich komme gleich", rief sie.
Fünf Minuten später hörte sie Jake die Treppe herauflaufen
und wurde sich bewusst, dass sie sich nicht von der Stelle gerührt hatte.
"Du leidest an einer Krankheit, die Amyoptrophische Lateralsklerose heißt", erklärte Lisa mit brüchiger Stimme und sah Mattie an, die wie erstarrt neben Jake in einem von Lisas kleinen Untersuchungsräumen saß.
"Das klingt ernst." Mattie wich dem Blick der Freundin aus und fixierte die Wand hinter ihr.
"Es ist ernst", sagte Lisa leise.
"Wieso habe ich noch nie von dieser Krankheit gehört?", fragte Mattie scharf, als machte das irgendeinen Unterschied, als hätte sie, wäre die Krankheit ihr bekannt gewesen, verhindern können, von ihr befallen zu werden.
"Du kennst sie wahrscheinlich unter dem bei uns geläufigeren Namen Lou-Gehring-Krankheit."
"O Gott!", keuchte Mattie und spürte zugleich, wie neben ihr
Jake in seinem Stuhl zusammensank.
"Ist dir nicht gut? Möchtest du ein Glas Wasser?"
Mattie schüttelte den Kopf. Sie wollte ganz andere Dinge: nicht in diesem Zimmer sein, in ihrem Bett liegen und schlafen, ihr Leben zurückhaben.
"Was heißt das genau? Ich weiß, dass Lou Gehrig ein berühmter Baseballspieler war. Ich weiß, dass er an einer schrecklichen Krankheit gestorben ist. Und du sagst jetzt - was? Dass ich die gleiche Krankheit habe? Woher weißt du das?"
"Dr. Vance hat mir die Ergebnisse des Elektromyogramms heute Morgen gefaxt. Sie sind eindeutig." Lisa hielt Mattie den hellen Hefter mit den Unterlagen hin. Jake nahm ihn, als Mattie sich nicht rührte. "Er fragte mich, ob ich es dir sagen wolle -"
Sag es mir nicht, dachte Mattie.
"Sag es mir", forderte sie, in ihren Ohren ein schreckliches Dröhnen.
"Der Test zeigt beträchtliche Denervierung -"
"Lass den Jargon!", fuhr Mattie sie an.
"An den motorischen Neuronen in Rückenmark und Hirnstamm sind irreversible Schäden festzustellen."
"Und was heißt das?"
"Die Nervenzellen sterben", erklärte Lisa.
"Die Nervenzellen sterben", wiederholte Mattie. "Die Nervenzellen sterben. Was heißt das? Heißt das, dass ich sterbe?"
Es war völlig still. Keiner rührte sich. Keiner atmete.
"Ja", sagte Lisa schließlich kaum hörbar. "O Gott, Mattie, es tut mir so entsetzlich Leid." Ihre Augen waren voller Tränen.
"Warte! Warte!" Mattie sprang auf und begann, in dem kleinen
Raum zwischen dem Untersuchungstisch und der Tür hin und
her zu laufen.
"Ich verstehe das nicht. Wenn ich diese amyotrophische weiß-der-Teufel-was-Krankheit habe, wieso hat sich das dann bei der Kernspintomographie nicht gezeigt? Den Bildern zufolge war doch alles in bester Ordnung", erinnerte sie Lisa.
"Mit der Kernspintomographie werden andere Dinge dargestellt."
S. 122-123
Vielleicht, überlegte Mattie, wurde sie auch die beiden Sessel
vor den Fenstern neu beziehen lassen, das steife gestreifte Leinen durch etwas Weicheres ersetzen, Samt vielleicht. Aber den
Ohrensessel mit dem beige-goldenen Bezug und den Petit-
Point-Teppich mit dem Blumenmuster würde sie behalten. Jake
konnte den Stutzflügel haben, der in der Südwestecke des Zimmers stand und nur noch ein Staubfänger war seit Kim vor mehreren Jahren mit dem Klavierunterricht aufgehört hatte. Aber kämpfen würde sie mit allen Mitteln um die kleine Bronzestatue von Trova, die neben dem Klavier stand, die beiden Diane-Arbus-Fotografien an der Wand dahinter, den Ken Davis, der über Eck dazu hing, und die Rothenberg-Lithographie, die fast die ganze Wand gegenüber dem Sofa einnahm.
War Jake nicht aus diesem Grund gekommen? Um die Beute
zu teilen?
Sie hatte es angenommen, als er am vergangenen Abend angerufen und gesagt hatte, er würde am folgenden Nachmittag gegen zwei vorbeikommen, es gäbe einiges zu besprechen. Aber als sie bei seiner Ankunft das traurige Lächeln gesehen hatte, so ein Lächeln, bei dem sie Lust bekam, ihm die ebenmäßigen weißen Zähne einzuschlagen, und die Schmerzensmiene, die, noch ehe er den Mund aufmachte, verriet, wie ernst es ihm mit seinem Vorhaben war, hatte sie gewusst, dass es bei dem bevorstehenden Gespräch nicht um die Scheidung oder die Aufteilung des Vermögens gehen würde. Alles würde wiedergekäut werden,
die Worte und der sanfte Druck der letzten Wochen, alles, was vielleicht bei Geschworenen wirkte, auf sie aber überhaupt keinen Eindruck machte: die bittenden Vorhaltungen, doch zur Vernunft zu kommen, die Versuche, sie zu zwingen, einer Wahr heit ins Auge zu sehen, die sie nicht bereit war, zur Kenntnis zu
nehmen oder zu akzeptieren.
In den vergangenen zwei Wochen hatte Jake mindestens einmal am Tag angerufen; er hatte darauf bestanden, sie zu ihren Terminen im Northwest General Hospital und in der Klinik in Lake Forest zu begleiten; er hatte in der Apotheke das von Lisa verschriebene Medikament geholt, obwohl sie ihm klipp und klar gesagt, dass sie nicht die Absicht hatte, es zu nehmen; er hatte sich ständig zu ihrer Verfügung gehalten. Kurz gesagt, er hatte sich unversehens in etwas verwandelt, was er in den nahezu sechzehn Jahren ihrer Ehe nie gewesen war - einen Ehemann.
"Fahr wieder in deine Kanzlei", sagte Mattie jetzt zu ihm.
"Du hast doch so viel zu tun."
"Ich bin für heute fertig."
Mattie bemühte sich nicht, ihre Überraschung zu verbergen.
"Gott, da muss ich ja wirklich schwer krank sein", sagte sie.
"Mattie -"
"War nur ein Scherz, Jake. Was man Galgenhumor nennt.
Aber wie dem auch sei", fuhr sie fort, "wenn du für heute fertig
bist, wieso verbringst du dann die Zeit nicht mit deiner Freundin? Sie wäre bestimmt überglücklich, dich so früh zu Hause zu
sehen."
"Ich gehe nicht mehr zu ihr", sagte Jake so leise, dass Mattie
nicht sicher war, recht gehört zu haben.
"Was?", fragte sie, obwohl sie das gar nicht wollte.
"Ich kann nicht mehr zu ihr gehen", korrigierte er sich, fügte
dem aber nichts mehr hinzu.
"Sie hat dich rausgeworfen?", fragte Mattie ungläubig. Er hatte sie nach mehr als fünfzehn Jahren wegen einer Frau verlassen, die ihn nach nicht einmal drei Wochen an die Luft gesetzt hatte?
Und jetzt erwartete er, dass sie seinen Verrat ohne mit der Wimper zu zucken vergessen, ihre Wut und ihre verletzten Gefühle begraben und ihn mit offenen Armen wieder aufnehmen würde? Mein Haus steht dir immer offen? Da täuschst du dich gewaltig mein Junge. So funktioniert das nicht.
"Es war ein gemeinsamer Beschluss", erläuterte Jake.
S. 156-157
Lesezitate nach Joy Fielding - Zähl nicht die Stunden