Manchmal setze ich mich hier zum Lesen und Arbeiten hin. Aber manchmal hole ich mir auch ein Buch nach oben ins Wohnzimmer. Und es kommt auch vor, dass ich einfach in der Bibliothek umherwandere und die Buchrücken lese .
Bei diesen Worten sprang Bibbi Bokken auf und tat genau das, was sie gesagt hatte. Sie ging an den Wänden entlang und holte dann ein Büchlein aus einem Regal. Es stammte von einem gewissen Simen Skjonsberg und hieß Der grausame Genuss - Texte über die Geheimnisse des Lesens. Dann bat sie Nils, den Klappentext vorzulesen. Er räusperte sich zweimal und las schließlich:
Ich gehe an den Regalen in der Bibliothek vorbei. Die Bücher kehren mir den Rücken zu. Nicht wie Menschen, um mich abzuweisen, sondern einladend, um sich vorzustellen. Buchmeter um Buchmeter, die ich niemals werde lesen können. Und ich weiß: Was sich hier anbietet, das ist Leben, das sind Zusätze zu meinem eigenen leben, die darauf warten, in Gebrauch genommen zu werden. Aber so rasch, wie die Tage verfliegen, bleiben die Möglichkeiten liegen - verlassen. Eines dieser Bücher könnte ausreichen, um mein Leben ganz und gar zu verändern. Wer bin ich jetzt? Wer wäre ich dann?
"Ich kann ja gut verstehen, dass du Bücher liebst", sagte ich. "Aber hast du denn keinen Beruf .... und keinen Mann?"
Bibbi legte den Kopf in den Nacken und lachte herzlich. Mario Bresani hatte sich offenbar soeben umgedreht, denn er schaute uns an und lachte ebenfalls.
Sie sagte:
"Das waren zwei Fragen auf einmal. Ich bin von Beruf Bibliografin, Berit. Das heißt, ich bin eine Art Expertin für Bücher und Bibliotheken. Und davon lebe ich. Ich übernehme Aufträge hier in Norwegen und in vielen anderen Ländern. Das bedeutet, dass ich viel auf Reisen bin. Und gerade deshalb soll meine Bibliothek besonders gut geschützt sein. Manchmal bin ich in Rom ... und manchmal kommt Mario nach Norwegen. Aber ich fühle mich auch wohl in meiner eigenen Gesellschaft - und in der meiner vielen Bücher. Irgendwer hat einmal gesagt: >Ein Buch ist der beste Freund.< Jemand anders hat das ähnlich ausgedrückt: >Wer seine Bücher richtig aussucht, befindet sich in der allerbesten Gesellschaft. Dort haben wir es mit den klügsten, geistreichsten und edelsten Charakteren zu tun, mit denen, die Stolz und Zierde der Menschheit ausmachen.<"
Während sie das sagte, erhob sie sich und ging zu Mario Bresani hinüber. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter.
Nils und ich gingen hinterher, und als wir uns über seinen Rücken beugten, sahen wir, dass er mit schwarzer und roter Tusche einige schöne und reich verzierte Buchstaben gemalt hatte. Wieder konnten wir etwas lesen, was wir schon einmal gelesen hatten. Dort stand: Bibbi Bokkens magische Bibliothek.
Und wieder dachte ich an Siris Brief, aber ich mochte nicht zugeben, dass ich den kannte. Deshalb sagte ich:
"Gibt es ein Buch, das ... das Bibbi Bokkens magische Bibliothek heißt?"
Mario richtete seinen Blick auf mich, als ich es sagte.
"Si, si", rief er. "La biblioteca magica de Bibbi Bokken!" "Und dieses Buch... das ... das erscheint vielleicht im nächsten Jahr?"
Ich bereute sofort, es gesagt zu haben. Ich glaube, ich biss mir auf die Lippe. Würde Bibbi jetzt begreifen, dass ich Siris Brief kennen musste?
Wieder wanderte ein rätselhaftes Lächeln über ihr Gesicht. Als sie keine Antwort gab, meldete Nils sich zu Wort. Er fragte ganz direkt:
"Hast du dieses geheimnisvolle Buch hier?"
Ich weiß noch, dass das bei Bibbi Bokken ein fast hysterisches Gelächter auslöste. Als sie sich wieder gefasst hatte, sagte sie:
"Nein, also wirklich! Ich finde, jetzt geht ihr wirklich zu weit!"
Nur dieses eine Mal fragte ich mich, ob wir vielleicht doch Grund haben könnten, uns vor Bibbi Bokken zu fürchten. Vielleicht waren wir ja doch hier unten eine Art Gefangene ...
Aber dann sagte sie:
"Sie sollten euch in der Schule beibringen, weniger ungeduldig zu sein. Ihr könnt einfach nicht verlangen, dass ihr alles auf einmal erfahrt. Eine Lüge ist in der Regel leicht zu durchschauen, ihr Lieben. Die Wahrheit im Blick zu behalten, ist nicht immer ganz so leicht, denn oft hat sie viele Seiten. Deshalb lässt die Wahrheit sich auch nicht im Handumdrehen in Worte fassen. Und ..
Wir schauten beide zu ihr hoch.
..... ihr habt die magische Bibliothek ja noch nicht gesehen."
Als ich zusammen mit Berit, Bibbi Bokken und Mario Bresani im Keller stand, erlebte ich ein Wunder. Zum ersten Mal in meinem Leben begriff ich, was ein Buch ist. Ein Buch ist eine magische Welt voller kleiner Zeichen, die die Toten zum Leben erwecken und den Lebenden das ewige Leben schenken können. Es ist unfassbar, fantastisch und "magisch", dass die sechsundzwanzig Buchstaben in unserem Alphabet auf so viele Weisen zusammengesetzt werden können, dass sie riesige Regale mit Büchern füllen und uns in eine Welt führen, die niemals ein Ende nimmt, sondern die wachsen und wachsen wird, solange es auf dieser Erde Menschen gibt.
Ich schaute an den Wänden hoch und einen Moment lang schienen alle Bücher mich ihrerseits anzustarren. Ja, als ob sie lebten, und sie riefen:
"Komm zu uns! Hab keine Angst! Komm her!"
Plötzlich hatte ich schrecklichen Hunger. Nicht nach einer Mahlzeit, sondern nach allen Wörtern, die sich in diesen Regalen versteckten. Aber ich wusste: Egal, wie viel ich in meinem Leben auch lesen könnte, niemals würde ich auch nur ein Milliardstel aller Sätze lesen, die geschrieben worden sind. Denn es gibt auf der Welt ebenso viele Sätze, wie es am Himmel Sterne gibt. Und es werden immer mehr und sie erweitern sich die ganze Zeit wie ein unendlicher Raum.
Doch zugleich wusste ich, dass ich immer, wenn ich ein Buch öffne, einen Zipfel des Himmels sehen werde, und immer, wenn ich einen neuen Satz lese, werde ich ein wenig mehr wissen als zuvor. Und alles, was ich lese, macht die Welt größer und erweitert zugleich mich selber. Für einen Moment hatte ich in die fantastische und magische Welt der Bücher hineingeschaut.
Deshalb war ich ziemlich baff, als Bibbi Bokken sagte:
"Ihr habt die magische Bibliothek ja noch nicht gesehen!"
"Doch", platzte es aus mir heraus. "Gerade eben. Tausend Dank."
Sie lächelte mich an.
"Das war nur der äußere Raum, mein Junge. Der Raum für das, was geschaffen ist."
"Gibt es noch andere Räume?", fragten Berit und ich wie aus einem Mund.
"Ja", sagte Bibbi Bokken und musterte uns mit neugierigem und zugleich ein wenig traurigem Blick. Sie schien unsere Gedanken lesen zu wollen und traurig zu sein, weil ihr das nicht gelang. "Es gibt einen inneren Raum. Einen Raum für das, was noch geschaffen werden soll. Den Raum der Möglichkeiten."
Berit sah fast so aus, als ob sie es verstanden hätte.
"Soll das heißen, dass .. S. 158-161
Lesezitate nach Jostein Gaarder, Klaus Hagerup - Bibbi Bokkens magische Bibliothek