"Und wie wärīs mit deiner Kappe?"
Kosmos tippt sich mit dem Finger an die Stirn.
"Mensch, Kosmos, willste nun ans Meer oder nicht?", fragt Neuner ungeduldig.
"Klar will ich ans Meer, du Spinner! Aber was soll denn die Konigin von Caracas mit meiner alten roten Kappe anfangen?"
Neuner muss plötzlich daran denken, was er Mama früher zum Muttertag geschenkt hat. Meistens waren es Steine gewesen. Schöne glatt geschliffene Steine, die er am Flussufer gesucht hatte. Und wie Mama sich immer darüber gefreut hat ... Den glattesten Stein hatte sie sogar in die Manteltasche gesteckt und jeden Tag bei sich gehabt, wenn sie morgens zu Fischer & Frost ging.
"Das ist ab jetzt mein Talisman!", hatte Mama gesagt. "Und immer, wenn ich den anfasse, muss ich an meinen kleinen Häwelmann denken!"
Aber jetzt ist der Fluss weit weg und Muttertag auch.
Neuner wühlt in seinen Hosentaschen, er findet keinen einzigen Stein, er findet nur eine hellgrüne Glasmurmel, einen zerquetschten Kaugummistreifen und einen verrosteten Schlüssel, der nirgendwo passt.
"Ich hab's! Das isses!", sagt Kosmos und klatscht sich mit der flachen Hand vor die Stirn.
"Dass ich da nicht eher drauf gekommen bin!"
"Nun sag schon, was ist dir eingefallen?", drängelt Neuner.
"Erinnerst du dich an die Schutzengelplakate? Diese Flügelfrauen, die die Männer und ihre Autos beschützen? Immer da, immer nah!"
"Die Schutzengelplakate, wieso? Was haben denn die mit unserem Geschäft zu tun?"
"Viel", sagt Kosmos und grinst. "Was die wollen, können wir schon lange!"
Neuner ist verwirrt. "Wieso? Was wollen die denn?"
"Die wollen den reichen Leuten Schutzengel verkaufen!", sagt Kosmos.
"Ja, und?"
"Mensch, bist du langsam! Sie will etwas Wertvolles, die Königin!"
Und da endlich begreift Neuner. "Das meinst du nicht ernst!"
"Und ob", sagt Kosmos. "Wenn ich selber einen Schutzengel hätte, könnten wir meinen nehmen. Würd mir nichts ausmachen. Nicht, wenn er das Einzige wär, wofür wir Geld bekommen könnten, um ans Meer zu fahren!"
"Da mach ich nicht mit! Mein Schutzengel gehört mir und den geb ich nicht her! Für nichts! Nie! Nie! Nie!"
"Würde wahrscheinlich auch sowieso nichts nützen", sagt Kosmos. "Was soll die Königin von Caracas mit deinem Schutzengel."
Neuner zögert.
Neuner denkt nach.
"Und was passiert, wenn man seinen Schutzengel verkauft hat? Ist er dann für immer weg, obwohl man dran glaubt?"
Kosmos zuckt die Schultern. Er sieht plötzlich ratlos aus.
"Weiß ich doch nicht", sagt er dann. "Kenn ich mich mit Schutzengeln aus? Ich weiß nur eins: Wir wollen ans Meer und wir brauchen Geld. Und was Besseres als deinen Schutzengel haben wir nicht."
Neuner zögert.
"Wie du an mir sehen kannst, lebt man auch ohne Engel ganz gut", sagt Kosmos. "Und wenn wir erst mal am Meer sind, dann brauchst du sowieso keinen Schutzengel mehr. Dann haben wir nämlich alles, was wir brauchen, verstehst du? Ich mach da īne Bude auf mit so einem großen Schild vorn: KOSMOS UND NEUNER, KALTGETRÄNKE AUS DEM EIS. Und du gehst am Strand lang mit īner Kühltasche und bedienst die Leute. Wir werden reich da unten, versprochen, Neuner! S. 34-36
Lesezitate nach Jutta Richter - Hinter dem Bahnhof liegt das Meer