Wenn es um Konfliktlösungen geht, dann hat er die verrücktesten Ideen, um die Lage zu entschärfen: das umstrittene Fassbinder-Theaterstück Die Stadt, der Müll und der Tod um die protestierenden Bühnenbesetzer herum aufzuführen; Woodstock auf dem Balkan mit internationalen und lokalen Bands verschiedener ethnischer Zugehörigkeit wieder aufleben zu lassen; mit den Böhsen Onkelz und ihren Fans über Ausländer zu diskutieren; einen Basar anstelle eines Wolkenkratzers im Frankfurter Gutleutviertel zu bauen ... Den beteiligten Parteien erscheinen diese Vorschläge allerdings oft so unkonventionell, daß sie Cohn-Bendit nur den Vogel zeigen.
Sein Ideenvorrat scheint unerschöpflich, seine Innovationslust unbegrenzt. Er hat etwas Schamloses, Ungehemmtes, eben wie ein Kind, dessen Selbstverständnis und Selbstbewußtsein noch von keiner Autorität gebrochen wurden. Und tatsächlich hat er ja eine sehr freizügige, unautoritäre Erziehung genossen. "Meine Erklärung, warum er berühmt wurde?" versucht eine Freundin der Familie Cohn-Bendit seine ungewöhnliche Entwicklung zu verstehen. "Er war frei. Keine Eltern, die auf ihn aufpaßten, nur ein Bruder, der ihn von weitem unterstützt hat. Eine Rente, die ihn finanziell unabhängig machte. Abends nicht nach Hause zu müssen, keiner schimpft und weint, wenn man im Gefängnis landet. Das muß irgendwie erlösend sein."
Und dann ist da natürlich seine herausragende Begabung, frei zu sprechen, wo auch immer, vor wem auch immer, in gefüllten Sälen, vor Mikrophonen und Kameras, ohne Konzept und ohne Notizen. Durchdrungen von dem Gedanken, etwas Wichtiges und Richtiges der Welt unbedingt mitteilen zu müssen S. 23
Revolution - "Dany le Rouge" auf den Barrikaden
Als sich die Mitglieder der Bewegung 22. März am Abend des 2. Mai 1968 versammeln, sind sie nicht sehr optimistisch. Ihre Mobilisierungskraft hat nachgelassen, viele Studenten bereiten sich auf ihre Prüfungen vor. Doch einfach zur Tagesordnung übergehen - das ist unmöglich. Denn acht aus ihrer Mitte werden sich in einigen Tagen vor dem Disziplinarrat der Sorbonne verantworten müssen, weil sie Professoren und Dozenten in der Ausübung ihres Amts beleidigt und behindert haben. Einer von ihnen ist Daniel Cohn-Bendit. Drohende Strafe: Ausschluß aus der Universität und damit Entzug der Aufenthaltsgenehmigung. Die Versammelten beschließen, am nächsten Morgen im Innenhof der Sorbonne gegen die disziplinarrechtliche Verfolgung der Kommilitonen zu demonstrieren. Keiner ahnt zu diesem Zeitpunkt, daß hiermit eine Revolte ihren Anfang nimmt, die innerhalb von drei Wochen fast den Sturz der Regierung de Gaulle/Pompidou bewirken wird.
Nur wenige hundert Aktive versammeln sich am 3. Mai im Hof der Sorbonne. Die Schließung der Fakultät in Nanterre hat in Paris keine hohen Wellen geschlagen. Ein paar Reden werden gehalten, unter anderem von Cohn-Bendit. Mit seinem karierten Hemd, mit Strickweste und Blouson sieht er aus wie ein harmloser netter Junge von nebenan - solange er nicht den Mund aufmacht. S. 72
In der Tat pendelt Cohn-Bendit seit seiner Wahl zum Europa-Abgeordneten im Juni 1993 unstet zwischen Frankfurt, Brüssel und Straßburg hin und her, macht ab und zu noch einen Abstecher nach Zürich, wo er für das Schweizer Fernsehen die Sendung "Literaturclub" moderiert. So ist er denn zunächst durchaus willig, sich die Kritik zu Herzen zu nehmen. Zurücktreten will er allerdings nicht - aus Angst, die christdemokratische Oberbürgermeisterin könne die Gelegenheit nutzen, das Amt ganz und gar abzuschaffen.
Als die Beschwerden dann nicht abnehmen, ist es Cohn-Bendit leid: "Papa soll immer da sein, aber Papa ist halt nicht immer da." Prinzipiell sei er immer erreichbar, sein Amt sowieso. Er sei aber Politiker und kein Sozialarbeiter. Die KAV solle einsehen, daß sie sich durch Scheingefechte selbst lahmlege. Doch natürlich weiß er auch, daß es so nicht weitergehen kann. Das ständige Jetten zwischen zwei Welten und mehreren Orten nagt an seiner Substanz. Also kündigt er im Januar 1996 endgültig seinen politischen Rückzug aus Frankfurt an und schlägt zwei Magistratsmitglieder aus der SPD und der CDU als seine Stellvertreter vor. Die Grünen fühlen sich mal wieder vor den Kopf gestoßen, denn sie begreifen das multikulturelle Amt als eine originär grüne Einrichtung. Doch Cohn-Bendit stellt bewußt die Weichen für eine Allparteienkoalition, weil er darin die beste Versicherung gegen die Abschaffung des Amts sieht.
Die Bilanz seiner achtjährigen Tätigkeit als Dezernent für Multikulturelles - hat es sich gelohnt? "Ja. Ohne selbstgerecht zu werden: Ich bin der festen Überzeugung, die gesamte Stadt hat im Klima von der Arbeit des Amts profitiert. Die fehlenden Schlagzeilen über Auslnderkonflikte sind der Beweis." Wo hat das Amt versagt? "Wir konnten die anderen Dezernenten nur punktuell davon überzeugen, daß wir mehr sind als eine lästige Störung." Triumph auch in der eigenen Partei: Die grüne Position hat sich inzwischen grundlegend verändert; <S. 201
Welche Lehren ziehen wir aus der deutschen Geschichte -lautet lange Zeit die Kernfrage des Streits zwischen Cohn-Bendit und Fischer. Obwohl des schwachmütigen Pazifismus gänzlich unverdächtig, sträubt sich letzterer zunächst entschieden gegen ein militärisches Eingreifen zugunsten der bosnischen Muslime, erst recht gegen eine deutsche Beteiligung daran. Er wird nicht müde, an die Schandtaten der Wehrmacht auf dem Balkan zu erinnern. Er fürchtet die Wiederauferstehung eines mächtigen Deutschlands, das sich selbstherrlich aus der europäischen Integration lösen könnte, und will lieber "keine historisch gewachsenen Zäune niederreißen".
Als die pazifistischen Grundsätze der grünen Partei aufzuweichen beginnen und für viele - Fischer inklusive - ein NATO-Einsatz vorstellbar wird, wehrt der sich noch lange gegen eine Beteiligung der Bundeswehr an solchen Einsätzen, vor allem in Regionen, die - wie der Balkan - durch Erfahrungen mit den deutschen Nazis bereits gezeichnet sind. Diese Haltung treibt Cohn-Bendit schlichtweg zur Verzweiflung:
"Ich kann es nicht mehr hören. Ich kann es nicht mehr hören, die Sache mit den Deutschen! ... Warum sollen nur französische, amerikanische, englische Kinder [er meint die Soldaten] sterben bei einem Einsatz?" Wenn es richtig sei, amerikanische Tornados einzusetzen, dann sei es auch richtig, deutsche Tornados einzusetzen.
Frei von typisch deutschen Skrupeln, überdies unverdächtig, deutsches Großmachtdenken begünstigen zu wollen, spricht Cohn-Bendit aus, was viele Deutsche nicht einmal zu denken wagen. Die historisch bedingte deutsche Sonderrolle hat seiner Auffassung nach ausgedient. "Es wäre doch geradezu lachhaft, wenn wir die deutsche Geschichte zur Legitimation dafür heranziehen, daß wir Menschen in Not nicht retten wollen." Die Angst vor einer Großmacht Deutschland hält er für "Quatsch", da niemand in Deutschland solche Ambitionen hege. Er fordert Deutschlands uneingeschränkte Beteiligung an militärischen Aktionen von UNO und NATO. "Wenn irgendein Grüner wirklich einmal außenpolitische Verantwortung trägt, wird er merken, dass die Sonderrolle in Paris, London und Warschau nicht mehr akzeptiert wird", prophezeit er schon im Dezember 1994 - und bekommt Recht. S. 214-215
Lesezitate nach Sabine Stamer - Cohn - Bendit