... reinlesen




Kidnapping in Florenz
Magdalen Nabb - Alta moda

Die Entführer von Olivia Birkett, die sie nachts, als sie gerade mit ihrem Hund um den Block geht, in ihr Auto zerren und mit ihr davonrasen, sind am anderen Tag ziemlich erstaunt, denn eigentlich hatten sie es auf ihre junge, hübsche Tochter abgesehen. Für Olivia beginnt eine qualvolle Zeit, denn sie wird in einer kalten, winzigen Berghöhle gefangen gehalten und am nächsten Tag in die Hügel um Florenz verschleppt.

Ihre Tochter schaltet die Polizei ein, meldet ihre Mutter als vermißt und der Fall landet, wie kann es anders bei der englischen Krimiautorin Magdalen Nabb sein, auf dem Schreibtisch des beliebtesteten Carabinieri in Florenz, Maresciallo Guarnaccia. Seine erste Frage bei seinen Ermittlungen lautet: "Wer steckt dahinter? Wenn es um Entführung geht, ist die Toskana fest in sardinischer Hand, soviel weiß ich auch, aber wer ist es?"

Seine Vermutungen gehen in die richtige Richtung, doch er hätte nicht gedacht, daß die beiden erwachsenen Kinder von Olivia Birkett so unerwartet reagieren. "Wie sagen die Florentiner so schön: Das Problem mit dem Kinderkriegen ist, daß man nie weiß, was für Menschen man in sein Haus läßt." Und so ist für Olivia die mehrwöchige, erniedrigende Gefangenschaft in der Wildnis der Berge am Ende leichter durchzustehen, als die maßlose Enttäuschung über ihre Kinder, denen ihr Erbe und die Sicherung ihres materiellen Wohlstands im Fall der Lösegeldzahlung wichtiger war, als die Sicherheit ihrer Mutter.

"Alta moda" ist ein psychologisch fein gestrickter, in ruhigem Tempo erzählter Krimi, der sich bestens als Urlaubslektüre eignet - am schönsten natürlich in der Toskana.


Magdalen Nabb - Alta moda
übersetzt von: Christa Seibicke
Originaltitel: © , " Properity of Blood"
© 1999, Zürich, Diogenens Verlag, 359 S. (HC)
© 1999, Zürich, Diogenens Verlag, 359 S.,  9.90 € (TB)
© 2002, Zürich, DAV Verlag, 359 S.,  9.90 € (CD)

      gebundenes Buch

      Taschenbuch

      Audio - CD



... reinlesen

Ich gebe mir ja die größte Mühe und will Ihnen auch alles sagen, aber vielleicht wird das, was ich mir gemerkt habe, Ihnen gar nicht weiterhelfen. Als nächstes haben sie mir jedenfalls die Uhr abgenommen, und da ich weder sehen noch hören konnte, war meine Wahrnehmung zeitweise ziemlich verschwommen, und wer weiß, ob mir nicht Minuten oder Tage, vielleicht sogar Wochen abhanden gekommen sind.

An den Überfall erinnere ich mich allerdings genau, schon weil ich mir den in den ersten Tagen wohl tausendmal ins Gedächtnis gerufen und darüber nachgegrübelt habe, was ich hätte tun, wie ich mich hätte verhalten sollen. Oder ich habe mir den Anschlag so zurechtphantasiert, daß ich entkam, sei es, weil ich um Hilfe schrie, weil zufällig ein Passant zur Stelle war oder weil Leo mir entgegenkam – das tat er nämlich manchmal. Ich vertrieb mir die Zeit mit solchen Phantasmagorien, die freilich an meiner unglücklichen Lage ebenso wenig änderten wie an dem Geschehen jener Nacht. Als ich Tessie an dem Abend ausrührte, ging ein eisiger Wind. Ich habe das Brausen noch in den Ohren und den Krach, mit dem hin und wieder ein herabstürzender Dachziegel auf dem Pflaster zerschellte oder ein schlechtgesicherter Fensterladen aufsprang. Tessie zerrte so stürmisch an der Leine, wie sie das ständig tut. Mich verblüfft es immer, wie sie mit ihren Säbelbeinen so ein Tempo vorlegen kann. – Sie haben so lange auf sie eingeschlagen und sie getreten, bis sie laut aufjaulte. Aber darüber mag ich nicht sprechen.

Wir kamen eben zurück auf unsere Piazza, ich wollte schon das Tor aufstoßen... und dann... Filmriß.

Im Dunkeln rotierte etwas dicht vor meiner Nase, das aussah wie die Flügel eines Ventilators, und der ganze Globus schien sich mitzudrehen. Ich verspürte einen heftigen Brechreiz, bekam auch keine Luft mehr. Es roch nach Chloroform, also glaubte ich, ich sei im Krankenhaus und würde gerade, frisch operiert, aus der Narkose aufwachen. Hier ist doch sicher ein Kübel, in den ich mich übergeben kann, dachte ich noch, und dann muß ich wieder ohnmächtig geworden sein.

Ich weiß, wie fatal dieser Ausfall für Sie ist, weil ich Ihnen nicht sagen kann, wie lange ich schon in dem Auto war, als ich wieder zu mir kam. Jedenfalls fand ich mich auf dem Boden zwischen Vorder- und Rückbank eingeklemmt wieder, das Gesicht in die Fußmatte gepreßt, Nase und Mund von Staub und Fusseln verklebt. Durch das Beben der Karosserie unter mir erriet ich, daß der Wagen mit hohem Tempo fuhr, wahrscheinlich auf der Autobahn, denn es ging immer geradeaus. Ich war mit irgend etwas zugedeckt, ich glaube, es war eine Lederjacke, und sie stank nach Schweiß und säuerlichem Fett. Als ich sie abstreifen wollte, weil ich darunter keine Luft bekam, merkte ich, daß meine Hände auf dem Rücken gefesselt waren.

»Ich halt das nicht aus! Ich ersticke, wenn Sie mir das nicht vom Kopf nehmen!«

Die Antwort war ein brutaler Tritt in die Rippen. Über mir saß jemand, die Füße auf meinen Körper gestemmt. Ich versuchte, den Kopf zu heben.

»Ich muß doch atmen können! Bitte!«

Er trat gegen meinen Kopf und knurrte: »Das Luder kommt zu sich.« Erst ein Rascheln, dann hörte es sich an, als ob ein Stück Stoff entzweigerissen würde. Der hinter mir zerrte mich an den Haaren hoch, und seine Stimme drang mir direkt ins Ohr.

»Untersteh dich ja nicht noch mal, mich herumzukommandieren. Hörst du? Du bist hier nicht in deinem protzigen Palazzo. Hier bestimme ich, kapiert?«

»Ja...«

Er schob mir die Stiefelspitze unters Kinn und zog meinen Kopf näher zu sich heran. Dann klatschte er mir ein breites Pflaster über den Mund und drückte es fest, ehe er meinen Kopf wieder zu Boden stieß und noch enger in die übelriechende Jacke wickelte. Vor Angst war ich wie von Sinnen. Ich hatte den Mund voll Dreck, und das Pflaster zwang mich, den unerträglichen Gestank tief durch die Nase einzuatmen. Völlig entnervt begann ich zu schreien, oder vielmehr: Ich versuchte es, aber die Schreie blieben mir im Halse stecken, und ich brachte nichts als ein schmerzhaftes Röcheln zustande.

Von vorn, aber nicht vom Fahrersitz her, brüllte eine Stimme: »Was machst du da, verdammt noch mal?«

»Ich hab ihr den Mund zugeklebt. Das Luder wollte hier rumkrakeelen.«

»Runter damit, du Blödmann, aber dalli! Wenn sie auf das Chloroform hin brechen muß, dann erstickt sie uns doch unter dem Pflaster. Also runter damit!« Ich hörte Tessie winseln, dann ein Jaulen, als ob man sie getreten hätte.

Die Finger, die unter meiner Nase herumfuchtelten, rochen nach Nikotin. Mit angehaltenem Atem wartete ich, bis er mir das Pflaster vom Mund riß. Beim Ankleben hatten sich ein paar Haare darin verfangen, die nun mit ausgerissen wurden, was so höllisch weh tat, daß ich anfing zu weinen. Die Streitenden bemerkten es nicht einmal. Der Mann auf dem Vordersitz schäumte.

»Du rührst sie nur an, wenn ich es sage! Ich hafte für die Ware, also hört alles auf mein Kommando, klar?!«

Mit Speichel und Zähnen versuchte ich, meine Zunge von Dreck und Fusseln zu befreien. Um mich einigermaßen vor dem abgestandenen Schweißgeruch zu schützen, atmete ich nur noch durch den Mund. Der Arm, auf dem ich lag, war eingeschlafen, aber ich wagte nicht, mein Gewicht zu verlagern, teils aus Angst vor dem Schmerz, der mit dem wiedererwachenden Gefühl einsetzen würde, teils aus Furcht vor einem neuerlichen Stiefeltritt.

Ich war immer noch ganz benommen von dem Chloroform, aber obwohl es vielleicht Linderung bedeutet hätte, wollte ich um keinen Preis wieder einschlafen. Denn angesichts meiner Erstickungsängste, der Finsternis und der Unfähigkeit, mich zu bewegen, wäre Schlaf fast gleichbedeutend mit Tod gewesen. Ich beschloß, mich mäuschenstill zu verhalten, damit der Mann über mir mir nichts tat, und spitzte im übrigen die Ohren, um mögliche Anhaltspunkte für Fahrtzeit und -richtung aufzuschnappen. Vergebens. Seit dem Streit über das Pflaster herrschte Schweigen. Was hatte ich auch erwartet? Daß plötzlich einer sagen würde: Ach, guck mal, die Abzweigung nach da und da?

Unter mir die Fahrbahn, Kilometer um Kilometer. Über mir die Last ihres Schweigens. Der widerliche Geruch. Sonst nichts. Einmal kam mir der Gedanke: Das ist so absurd, daß es einfach nicht wahr sein kann. Es ist ein Alptraum, einer von der Sorte, in denen man nicht von der Stelle kommt. Nur ein bißchen Geduld, und bald werde ich zu Hause aufwachen, in einer Welt, in der es Typen wie die gar nicht gibt.

Der Alptraum ging jedoch nicht zu Ende, nur die Autofahrt. Durch die Erschütterungen des Wagenbodens unter mir spürte ich, daß wir die Straße gewechselt hatten: Erst kam eine kurvenreiche Strecke mit etlichen Kreuzungen, dann ein holpriger Feldweg. Der Wagen hielt an. Als sie mich in die eisige Nachtluft hinauszerrten, war ich froh, daß ich für die Abendrunde mit Tessie den dicken Schaffellmantel angezogen hatte und die bequemen Pelzstiefel... Verzeihen Sie.

Nein, bitte nehmen Sie sich meine Tränen nicht zu Herzen. Eigentlich weine ich ja gar nicht, das sind nur der aufgestaute Schmerz und die Anspannung, die sich so ein Ventil schaffen. Als ob mein Körper an meiner Statt weinen würde. Sie verstehen? Da, sehen Sie, ich kann gleichzeitig lächeln, das beweist doch, daß es nur eine körperliche Reaktion ist. Schließlich habe ich jetzt ja auch allen Grund, glücklich zu sein, nicht wahr?

Dann nahmen sie sich Tessie vor und traktierten sie mit Fußtritten, bis einer sie packte und in hohem Bogen in die Dunkelheit schleuderte.

Wir gingen zu Fuß weiter. Ich hätte nicht mal die Hand vor Augen sehen können. Um mich herrschte vollkommene Dunkelheit, jene bedrückende, sinnverwirrende Finsternis, in der man rasch das Gleichgewicht verliert. Hinzu kam der Kampf gegen den stürmischen, eisigen Wind. Die Männer trieben mich schubsend und zerrend vorwärts. Diese erste Etappe war jedoch nicht lang. Sie führten mich erst über einen steinigen Schotterpfad, dann über weiches Erdreich mit vereinzelten wuchtigen Steinplatten, dann über kurzgeschorene Grasbuckel. Sehen konnte ich, wie gesagt, nichts, spürte aber die wechselnde Bodenbeschaffenheit durch die Gummisohlen meiner Stiefel. Nach einiger Zeit ging es bergauf, und ich hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten, weil meine Hände immer noch gefesselt waren und die schwarze Finsternis ringsum keinerlei Orientierungshilfe bot. Einmal stolperte ich und prallte, da ich keinen Arm frei hatte, um mich aufzufangen, gegen meinen Vordermann. Der revanchierte sich fluchend mit einem so brutalen Fußtritt, daß ich den Schmerz durch den Stiefel hindurch spürte. Außerdem verlor ich vollends das Gleichgewicht und stürzte. Jemand riß mich an den Haaren hoch.

»Auf, auf, Contessina! Vorwärts, marsch.«

Als ich hochkam, verspürte ich plötzlich einen schmerzhaften Druck auf die Blase, gegen den ich, ob unter dem Einfluß der Kälte oder der Nachwirkungen der Narkose, einfach machtlos war.

»Ich muß mal austreten.«

Sie schubsten mich seitwärts. »Dann mach zu!«

Der Mantel war mir im Weg, außerdem trug ich eine Hose mit seitlichem Reißverschluß. »Es geht nicht! Meine Hände!«

Da banden sie mich los, doch es war zu spät. Ich hatte mich schon naß gemacht, und ins Gras ging wohl bloß noch die Hälfte. Ich fror erbärmlich in den naßgepinkelten Hosen. Was immer die mit mir vorhaben, ich werde es nicht überleben, dachte ich. Und es sind nicht Fußtritte und Schläge, was mich umbringen wird, sondern Erniedrigungen wie diese. Allein, der Aufstieg war so beschwerlich, daß ich mich ganz darauf konzentrieren mußte, das Gleichgewicht zu halten, und als ich langsam wieder Tritt gefaßt und in meinen Rhythmus zurückgefunden hatte, da hatte die Körpertemperatur die nassen Stellen erwärmt, und sie fingen allmählich an zu trocknen. Sicher klingt das merkwürdig, vielleicht sogar verrückt, aber ich weiß noch, daß ich mich inmitten von Furcht und Verzweiflung mit der stereotypen Elternfrage hänselte: ›Hättest du nicht zu Hause noch mal aufs Klo gehen können?‹ Beinahe hätte ich einen Lachanfall bekommen, aber das waren wohl nur meine überreizten Nerven. Die Kinder... Ich kann's kaum erwarten, sie in die Arme zu schließen. Wie lange wird es wohl noch dauern?

Wir verbrachten die Nacht in einer unterirdischen Höhle. Ich mußte eine ziemliche Strecke weit kriechen, bis wir in einen Raum kamen, in dem man sitzen oder knien, aber nicht aufrecht stehen konnte. Schon im Knien stieß ich mit dem Kopf gegen die Decke.

»Faß nach rechts. Da liegt eine Matratze.«

Ich konnte sie nicht nur ertasten, sondern auch riechen.

»Kriech da rauf und leg dich auf den Rücken. Und jetzt faß hinter deinen Kopf und hol dir, was da steht.«

Eine Flasche Wasser, eine Bettpfanne, beide aus Plastik, und eine Rolle Toilettenpapier.

»Streck die rechte Hand aus.« Ich fühlte, wie man mir eine Kette ums Handgelenk schlang, und hörte ein Vorhängeschloß einrasten. Dann glitt die schwere Kette der Länge nach an meinem linken Bein hinab, wurde um den Fuß geschlungen und mit einem weiteren Schloß gesichert, ehe das Kettenende klirrend irgendwo in der Höhe befestigt wurde. Wahrscheinlich an einem Eisendübel in der Mauer. Aber warum fesselten sie mich so eng? Was hätte ich anstellen, wohin hätte ich fliehen können, wenn sie mir ein bißchen mehr Bewegungsfreiheit gewährt hätten? Bestimmt gab es keinen Grund, mir dermaßen das Blut abzuschnüren.

»Streck die linke Hand aus.«

Er legte etwas hinein. Es war kalt und feucht und schwer und fühlte sich an wie tot. Mich schauderte. Aber er schloß meine Hand darüber, führte sie zum Mund, so dicht, daß mir der Nikotingeruch seiner Finger in die Nase stieg, und sagte: »Iß!«

Es war ein Stück Fleisch, gekochtes Huhn vielleicht, weil es sich gar so feucht und glitschig anfühlte. Und es roch stark nach Knoblauch. Ich bin Vegetarierin, aber ich hütete mich schon damals vor Einwänden, die mit Sicherheit nur neuerliche Schläge und Beschimpfungen provoziert hätten. Und wenn ich überleben wollte, blieb mir ja auch gar nichts anderes übrig, als zu essen, was ich vorgesetzt bekam. Also biß ich ein Stück von dem kalten, glibbrigen Fleisch ab und zwang mich zu kauen. Ich nahm noch einen Happen, kaute darauf herum, brachte aber nichts hinunter. Ich gab mir alle Mühe, doch ich konnte keinen Speichel sammeln, und der Versuch, das Fleisch trocken hinunterzuwürgen, erzeugte nur Brechreiz.

»Verzeihung. Es tut mir wirklich leid. Aber ich kann nicht schlucken. Es liegt nicht am Essen – das schmeckt sehr gut –, vielleicht kommt's von dem Chloroform. Es geht einfach nicht. Bitte, entschuldigen Sie.« Wie ein Gast auf einer Dinnerparty, der dankend die zweite Portion ablehnt: »Ich kann beim besten Willen nicht mehr, aber es hat vorzüglich geschmeckt... Nein, leider, es geht wirklich nicht...« Ich mußte lange warten, bevor ich wieder etwas zu essen bekam, aber in dem Moment konnte ich mich einfach nicht überwinden. Der Nikotinfingrige befahl mir zu trinken. Weil ich die Flasche mit einer Hand nicht aufbekam – später lernte ich, den Schraubverschluß mit den Zähnen zu drehen –, öffnete er sie für mich. Dann nahm ich sie ihm ab, denn obwohl die randvolle, biegsame Plastikflasche mit einer Hand schwer zu halten war, wollte ich beim Trinken nicht wieder seine Nikotinfinger riechen müssen. Auf einmal wurde ich stutzig. War es nicht merkwürdig, daß nur er allein sich noch um mich kümmerte? Ob die anderen gar nicht mehr da waren – der Fahrer des Wagens und sein Nebenmann, der von sich behauptet hatte, er sei der Boss? Wahrscheinlich nicht, denn als ich getrunken hatte, hörte ich den Nikotinfingrigen noch eine Weile herumkramen, und dann, ohne daß ein weiteres Wort gefallen wäre, verrieten nur immer leiser werdende, scharrende Kriechgeräusche und das Rascheln seiner Kleider, daß auch er sich in Richtung Ausgang entfernte. Ich lauschte angespannt ins Dunkel, besessen von der Angst, einer von ihnen oder womöglich alle drei könnten zurückkommen. Ich fürchtete mich vor neuerlichen Schlägen und mehr noch davor, daß sie mich, die wehrlos Angekettete, vergewaltigen würden. Daß sie meine Schmach entdeckten, dahinterkamen, daß ich mich naß gemacht hatte, und sich genauso vor meinem Gestank ekeln würden wie ich mich vor dem ihren. Mit solchen Gedanken quälte ich mich wohl stundenlang, bis mir endlich aufging, daß sie nicht wiederkommen würden. Sie nicht und niemand sonst. Das war das Ende. Meine Entführer konnten in aller Ruhe ihre Lösegeldforderungen stellen, während ich hier angekettet liegenblieb. Warum sich also der Gefahr aussetzen, entdeckt zu werden, wann immer sie mich mit Nahrung versorgten? Nichts sprach dafür, daß man mich jemals hier finden würde.

In der Nacht habe ich nicht geweint. Ich glaube, man weint in der Hoffnung auf Trost und Beistand, meinen Sie nicht auch? Bei kleinen Kindern ist das zumindest so. Ein Säugling kann weder laufen noch sprechen und ist allein völlig hilflos, denn er kann weder etwas zu essen verlangen, wenn er hungrig ist, noch seine Windeln wechseln, wenn er sich naß gemacht hat. Er kann nichts weiter als weinen und plärren, doch das tut er in der Gewißheit – im Vertrauen darauf, daß garantiert jemand kommt und sich um ihn kümmert. Nun hatte ich zwar genau die gleichen Probleme wie ein hilfloses Baby: Mich fror, ich war naß und hungrig und einsam. Und einmal raffte ich mich sogar zu einem matten Greinen auf, das freilich bald wieder verstummte und natürlich nichts bewirkte. Aber es war ja keiner da, niemand hörte mich; nicht einmal eine Phantasiegestalt, die sich meiner hätte annehmen müssen. Ich war hier drinnen lebendig begraben, und das Leben draußen würde ohne mich weitergehen.

Es war nicht das Sterben, wogegen ich aufbegehrte. Sterben müssen wir alle. Ich empörte mich dagegen, daß mir mein persönlicher Tod verwehrt wurde und ein anständiges Begräbnis, bei dem meine Angehörigen sich von mir hätten verabschieden können. Und ich wünschte mir ein richtiges Grab, eins mit Blumenschmuck. In der Regel verdrängen wir den Gedanken an den Tod, aber wenn man sich ihm stellen muß, so wie ich in jener Nacht, dann ist uns das Sterben auf einmal genauso wichtig wie das Leben. Ist wohl auch verständlich, daß man seinem Leben mit diesem allerletzten Akt ein würdiges Finale setzen möchte. – Sie merken schon, ich hatte viel Zeit zum Nachdenken, aber Ihnen helfen solche Reminiszenzen natürlich nicht weiter, auch wenn Sie mir noch so geduldig zuhören. Mich friert... Könnte ich noch so eine Decke haben? Die stammen aus den Zellen, nicht wahr? Oh, das geniert mich nicht, wo ich doch inzwischen selbst ein Häftling war... Danke schön.

Es wurde eine endlos lange Nacht. Geschlafen habe ich überhaupt nicht. Ich konnte dieses Gefühl nicht loswerden, daß ich mich mit dem Schlaf dem Tode anheimgeben würde. Aber wenn ich wirklich in dieser Höhle den Tod finden sollte, dann wollte ich mit wachen Sinnen sterben. Wollte mein Leben bis zum Schluß bewußt erfahren, in aller grausamen Härte, angekettet, in völliger Dunkelheit. Mein Kopf war immerhin noch intakt, und hungern schärft ja angeblich den Verstand. Wer Hungers stirbt, hat, heißt es, einen leichten Tod, deliriert sich euphorisch ins Jenseits.

Gleichwohl litt ich entsetzlich unter der Dunkelheit, jener totalen Finsternis, wie man sie nur in ganz abgeschiedenen, ländlichen Gegenden findet, eine Finsternis, die einen nicht nur am Sehen hindert, sondern die als machtvolle Naturgewalt ein gefährliches Eigenleben entwickelt und einen mit der Zeit in Wahnvorstellungen treibt. Weil er keine Informationen mehr empfängt, beginnt der Verstand, welche zu erfinden, gaukelt uns tanzende Lichtreflexe vor und gespenstische Schatten, die einen so ungestüm anfallen, daß man sich unwillkürlich ducken möchte. Ganz ähnliche Streiche spielt einem das menschliche Hirn übrigens bei lautloser Stille. Man halluziniert Geräusche, Stimmen, egal was, solange es nur das unerträgliche Vakuum füllt.

Ich hatte mir vorgenommen, meine Gedanken zu ordnen, wollte mein Leben überdenken und von ihm Abschied nehmen. Wahrscheinlich ging es mir darum, gewissermaßen meine Würde zurückzugewinnen, aber die quälenden, sinnverwirrenden Streiche, die mir mein Kopf spielte, ließen das nicht zu. Atembeklemmungen taten ein übriges. Wie groß war diese Höhle eigentlich? Wieviel Luft hatte ich zur Verfügung? Hatten die Entführer den Eingang verrammelt? Ersticken, das wäre die grausamste Todesart, die ich mir vorstellen könnte. Nicht, daß ich an Klaustrophobie leiden würde, aber ich bin zum Beispiel nie eine sonderlich gute Schwimmerin gewesen, weil ich den Kopf nicht unter Wasser halten kann. Mein Sohn hat sich darüber immer lustig gemacht und ist oft hinter mir hergeschwommen, um mich nachzuäffen, wenn ich mit langgestrecktem Hals angepaddelt kam wie eine Ente. Letztlich war es die Angst vor dem Ersticken, die mich auf Trab brachte. Auf die linke Hand gestützt, setzte ich mich auf und tastete meine unmittelbare Umgebung ab. Und siehe da, die Erfahrung, daß zumindest meine Hand die erdrückende Finsternis zu durchbrechen vermochte, sie half. Hinter meinem Kopf ertastete ich die Mauer mit der Wasserflasche und den übrigen Sachen und über mir die Höhlendecke, nach vorn und zu den Seiten stieß ich dagegen ins Leere. Weiter auf die freie Linke gestützt, hangelte ich mich auf Knien an der Kette vorwärts. Und bald schlug mir aus dem leeren Raum ein schwacher Luftzug entgegen. Wo Luft hereinkam, da mußte auch Licht eindringen können. Ich kroch zurück auf die Matratze und begann nachzudenken. Darüber wurde ich ruhiger. Mit selbst erzeugten Vorstellungen und Gedanken verdrängte ich die halluzinatorischen Ausgeburten der schwarzen Finsternis ringsum. Und auch die Initiative vorhin, der kleine Erkundungsgang, wirkte aufbauend. Also machte ich nach dem Rezept weiter. Erst benutzte ich die Bettpfanne, die ich mit der linken Hand ziemlich ungeschickt handhabte, dann wischte ich mich mit einem Stück Toilettenpapier ab, schob anschließend die Bettpfanne nach links und griff nach der Flasche. Die ließ sich mit einer Hand nur schwer halten, und ich verschüttete reichlich Wasser auf der Matratze, bevor es mir gelang, ein paar Schluck zu trinken. Obwohl ich entsetzlich fror, hatte ich einen brandheißen, trockenen Mund und aufgesprungene Lippen, wie eine Fieberkranke. Das Wasser war wunderbar erfrischend und köstlich! Nicht nur, daß es den Durst stillte, es schmeckte auch so vorzüglich wie der erlesenste Weißwein. War der Griff zur Flasche zuerst nur Beschäftigungstherapie gewesen, so merkte ich jetzt, wie durstig mich der Fußmarsch und die qualvollen Stunden der Angst gemacht hatten. Jeder Schluck beflügelte mich – weil es so gut schmeckte und weil das Wasser ein Omen war. Wenn sie mich hier umkommen lassen wollten, hätten die Entführer mir dann Wasser hingestellt? Oder eine Bettpfanne und sogar Toilettenpapier? Wenn es Sie wundert, daß ich aus einem Schluck Wasser Hoffnung schöpfen konnte, um wieviel schwerer werden Sie da erst die Ungeduld verstehen, mit der ich die Rückkehr meiner Entführer erwartete. Allein, es war so, und dann, wie um mich in meiner Zuversicht zu bestärken, dämmerte der Morgen. Nach und nach erkannte ich den blassen Umriß meiner Hand, bizarre Felsblöcke ringsum, den großen Eisendübel, an dem meine Kette befestigt war, den Gang, der nach draußen führte. Richtig hell wurde es so tief im Innern der Höhle natürlich nicht, aber daraus, daß immerhin genügend Licht hereindrang, um meine Umgebung zu erkennen, schloß ich, daß draußen ein schöner Tag angebrochen war. Der Gedanke belebte mich vollends wieder. Mit einem flachen Stein, den ich vom Boden aufgelesen hatte, kauerte ich mich auf die hinterste Ecke der Matratze und ritzte etwas in die Mauer – eine Botschaft, von der ich wußte, daß Leo sie verstehen und zweifelsfrei mit mir identifizieren würde... Ich suchte mir dazu eine Stelle ganz tief unten, die ich mit ein paar aufgeschichteten Steinen verdecken konnte.

»Hinlegen!«

Ich erstarrte.

»Mit dem Gesicht nach unten, auf die Matratze!« Ich gehorchte, und gleich darauf kam jemand in die Höhle gekrochen.

Er hob meinen Kopf an, ich hörte, wie etwas angeschnitten und auseinandergerissen wurde.

Ich bekam ein großes Pflaster auf jedes Auge und darüber einen breiten, von Schläfe zu Schläfe reichenden Klebestreifen, der über der Nase sorgsam angedrückt wurde. Es war nicht der Nikotinfingrige, der das besorgte. Vielmehr erkannte ich an der Stimme den, der im Auto »Ich hafte für die Ware!« gebrüllt hatte. Ich versuchte, seine Hand zu ertasten, von deren Größe ich mir Rückschlüsse auf die Statur des Mannes erhoffte, doch er versetzte mir einen Schlag, der mich mit dem Gesicht nach unten auf die Matratze taumeln ließ.

»Keine faulen Tricks! Und du rührst dich nur auf Befehl, verstanden? Und wenn du weißt, was gut für dich ist, dann verkneifst du dir das Flennen. Das brennt sonst unter den Pflastern wie der Teufel.«

Die verstanden ihr Handwerk. Als er mir die Kette abnahm, hätte ich mich gern umgedreht, um mir das taube Handgelenk und den eingeschlafenen Fuß zu massieren, aber ich wagte nicht mehr, mich unaufgefordert zu rühren.

»Runter vom Bett. Auf alle viere und mir nach.«

Ich kroch hinter ihm her zum Ausgang. Vor der Höhle zerrte man mich unsanft auf die Füße. Der eisige Wind blies mir mit solcher Macht entgegen, daß ich fast das Gleichgewicht verloren hätte. Doch obwohl der scharfe Luftzug mir prickelnd ins Gesicht schnitt, hörte ich das leise grollende Ächzen der Windböen wie aus weiter Ferne. Mir war, als stünde ich auf einer schier endlos weiten, freien Fläche. Die Luft roch nach Schnee, und trotz des Pflasters spürte ich gleißende Helligkeit.

»Gottverdammter Mist!«

»Und was jetzt?«

»Halt's Maul, du!«

Der Mann, der angeblich das Kommando rührte, klang wütend oder vielmehr so, als hätte er einen panischen Schrecken bekommen. Seine Stimme erkannte ich auf Anhieb, aber von wem das ›Und was jetzt ?‹ kam, wußte ich nicht genau. Vielleicht war es der Fahrer von gestern abend? Der hatte im Auto nicht gesprochen. Beide Stimmen hatten unverkennbar einen Florentiner Akzent, hart und spröde.

»Sie haben sich geirrt, nicht wahr? Sie wollten gar nicht mich – ich bin nicht reich genug...«

Ein brutaler Schlag ins Gesicht. »Maul halten, Dämchen! Die linke Hand her.« Ich streckte sie aus. »Fühl das – fühlen, hab ich gesagt! Nicht festklammern wie ein nasser Sack. Du sollst nur im Gehen Handkontakt halten. Wenn er stehenbleibt, gilt das auch für dich. Und wenn er weitergeht, genauso. Los jetzt!« Damit versetzte er mir einen Stoß ins Kreuz, wahrscheinlich mit einem Gewehrlauf.

Ich ertastete die grobe Leinwand eines Rucksacks, den mein Vordermann geschultert hatte, und versuchte gehorsam ihn im Gehen ganz leicht mit der Hand zu berühren. Unter meinen Sohlen knirschte Schnee, und ich ahnte, daß wir uns in großer Höhe befanden – nicht nur, weil Schnee lag, sondern auch weil das gedämpfte Heulen des Windes von weit unten heraufdrang, statt daß es von oben gekommen wäre. Wir folgten einem steinigen Pfad, der rechter Hand hart am Rand eines schroffen Abhangs entlangführte, und weil der Weg sehr schmal war und meine Stiefel für solch unebenen Grund nicht das geeignete Profil hatten, wurde mir jeder Buckel, der aus dem Pulverschnee herausragte, zum Stolperstein. Wie hätte ich mich da nicht haltsuchend an den Rucksack klammern sollen, als ich ausglitt?

Mein Vordermann bestrafte mich umgehend mit einem Fußtritt. »Zerr nicht so an mir, dummes Luder!« Der hinter mir richtete mich wieder auf und stupste mich ins Kreuz.

»Hoch mit dir! Aber häng dich nicht an den Rucksack und markier keinen Sturz, bloß um einen von uns betatschen zu können, sonst kriegst du damit eins in die Visage.« Und er stieß mir den Gewehrlauf gegen die Wange. Dann führte er meine Hand wieder an den Rucksack. »Vorwärts!«

Ich war nicht absichtlich gestolpert, bestimmt nicht! Aber aus Angst vor neuerlichen Schlägen wagte ich nicht, mich zu verteidigen. Dabei drängte es mich, sie anzusprechen und zu fragen, warum sie mir das antaten. Obwohl ich doch für ihre Zwecke gar nicht genug Geld hatte. Warum hatten sie sich keinen reichen Erben ausgesucht, einen, der sich nie hatte krummlegen müssen, dem alles in den Schoß gefallen war? Einen echten Kapitalisten, dem gegenüber solche Typen sich gerechtfertigt wähnen mit ihrem Haß und ihren Rachegelüsten. So eine bin ich nicht! wollte ich sagen und ihnen erklären, daß ich früher arm gewesen war und mich mächtig hatte ins Zeug legen müssen, um meine Kinder großzuziehen, und daß ich viele Jahre wirklich hart gearbeitet hatte. Sollte es mir denn nicht vergönnt sein, zwischen den Sorgen der Armut und den Problemen des Erfolgs wenigstens für ein paar Jahre zur Ruhe zu kommen? Es war geradezu lachhaft, daß ich einer Entführung zum Opfer fiel, bevor ich auch nur Zeit gehabt hatte, meine restlichen Schulden abzuzahlen.

Aber ich traute mich nicht, den Mund aufzumachen, und selbst wenn, was hätte das schon gebracht? Sie hatten mich als reiches Luder abgestempelt, und das Stigma mußte mir, im Interesse ihres guten Gewissens, auch bleiben. Das ist die reine Wahrheit, ehrlich! Sie würden's nicht glauben, was für Predigten die mir in den kommenden Wochen hielten, bloß um ihre Habgier und Grausamkeit zu rechtfertigen.

Jedenfalls wagte ich nichts zu sagen, sondern marschierte gehorsam weiter. Unter dem Schaffellmantel schwitzte ich bald vor Anstrengung, während mein Kopf und vor allem die Ohren vor Kälte brannten. Die Hände waren wie abgestorben, so daß ich zwischenzeitlich gar nicht mehr wußte, ob ich noch Kontakt mit dem Rucksack hatte. Eine Weile versuchte ich, die Rechte in der Manteltasche zu wärmen, aber ich brauchte sie ja, um das Gleichgewicht zu halten und um, wenn ich ausglitt, nicht in den drohenden Abgrund zu meiner Rechten zu stürzen. Jedesmal, wenn ich strauchelte, schlugen die Männer auf mich ein. Obwohl wir den ganzen Tag unterwegs waren und es, wie mir schien, immerzu bergauf ging, machten wir nicht ein einziges Mal Rast. Ich spürte ihre Nervosität, ja Angst. Irgend etwas stimmte nicht. Diese Bemerkung, als sie mich am Morgen zum erstenmal im Hellen gesehen hatten... Vielleicht war meine Vermutung doch richtig. Sie hatten einen Fehler gemacht, und ich war überhaupt nicht die, auf die sie es abgesehen hatten. Womöglich rührten sie mich jetzt meilenweit im Kreis herum, damit ich die Orientierung verlor, und dann würden sie mich irgendwo in der Nähe einer Ortschaft freilassen. Schließlich hatte ich keinen von ihnen zu Gesicht bekommen, konnte sie also auch nicht identifizieren. Sie hatten nichts von mir zu befürchten.

Ohne anzuhalten, langte mein Hintermann über mich weg nach dem Rucksack, zog etwas heraus und drückte mir eine Plastikflasche in die Rechte.

»Können wir nicht einen Moment stehenbleiben? Ich hab Angst, daß ich sonst hinfalle.«

»Geh weiter!« Kaum hatte ich einen Schluck getrunken, da mußte ich aufstoßen und sabberte unwillkürlich meinen Kragen voll. Vielleicht weil ich so lange nichts mehr gegessen hatte. Der Mann gab mir eine Scheibe trockenes Brot und ein Stück Käse. Es schmeckte gut, besonders der Käse, kroß und salzig. Aber als ich einen Mundvoll gekaut hatte und hinunterschlucken wollte, mußte ich wieder aufstoßen, und mein Magen zog sich zusammen – wie wenn man brechen muß oder dagegen ankämpft –, so als wolle er mit Gewalt jede Nahrung verweigern. Ich versuchte es weiter, denn ich konnte nicht glauben, daß meine psychische Verfassung über eins der elementarsten leiblichen Grundbedürfnisse triumphierte. Wo es doch eigentlich genau umgekehrt sein müßte, oder? Schließlich behielt ich ein paar zerkaute Bissen im Mund, bis sie sich so weit aufgelöst hatten, daß der Speichelfluß sie nach und nach mit hinunterspülen mußte. Auf diese Weise brachte ich es auf sechs, sieben Happen, und als er mir die Flasche an die Lippen hielt, trank ich ein paar Schluck Wasser hinterher. Ich mußte doch alles tun, um bei Kräften zu bleiben. Inzwischen war ich fest davon überzeugt, daß sie sich geirrt hatten und mich bald wieder laufenlassen würden. Ich mußte ihnen bloß bedingungslos gehorchen. Also berührte ich den Rucksack vor mir nur ganz behutsam mit der flach ausgestreckten Linken, senkte den Kopf noch tiefer und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, damit ich die beiden nicht durch abermaliges Stolpern reizte; vor allem aber, weil ich nach meiner Freilassung mit einem langen Fußmarsch rechnete, den ich mir nicht durch eine unbedachte Verletzung zusätzlich erschweren wollte.

Der Rucksack blieb stehen und ich mit. Ich hörte ihn ein paar Schritte beiseite gehen und austreten. Unterdessen drückte mir der andere das Gewehr ins Kreuz. Ich weiß nicht, was für Fluchtabsichten er mir zutraute, aber ich blieb ruhig, mit gesenktem Kopf stehen, bis ich meinen Vordermann wiederhatte, bis der Schießprügel meine Hand an den Rucksack führte und dann seinerseits austreten ging. Erst da wurde mir bewußt, daß der Nikotinfingrige nicht mitgekommen war. Ich bedeutete ihnen mit einem Zeichen, daß ich ebenfalls austreten müsse.

»Hier rüber.« Nach links. Rechts vom Weg fiel der Hang immer noch so schroff ab, daß ich das Gleichgewicht verloren hätte. Es gelang mir, mich hinter meinem Mantel zu verstecken, und ich gab mir alle Mühe, ihn nicht naß zu machen. Aber da ich nichts sehen konnte, durchlitt ich all die Ängste, die kleine Kinder in einer solchen Notlage befallen: Angst vor Dornen, Brennesseln, Glasscherben. Es gab aber nur piksende Grasstoppeln, Pulverschnee und den eisigen Wind, der über meinen warmen, entblößten Unterleib strich. Der Gedanke an meine Freilassung hatte mir neuen Auftrieb gegeben, und mein Verstand arbeitete fieberhaft. Allem Anschein nach bestiegen wir einen Hügel oder Berg, und da der Steilhang nach wie vor rechts von uns lag, gingen wir immer in dieselbe Richtung und nicht, wie ich anfangs vermutet hatte, einfach nur im Kreis herum. Wahrscheinlich würden wir den Gipfel überqueren und erst dann einen Bogen schlagen, groß genug, daß ich die Orientierung verlor und sie gefahrlos umkehren und den Abstieg beginnen konnten. Sie können sich vorstellen, wie leicht mir ums Herz wurde, als es tatsächlich abwärts ging. Ich hatte richtig getippt. Bald würden sie mich irgendwo aussetzen. Ach, ich hätte weinen mögen vor Freude! Ich war nur einem Irrtum zum Opfer gefallen, und heute abend würde ich wieder zu Hause sein, würde nach einem warmen Bad in meiner Sofaecke sitzen und Leo und Caterina bei mir haben. Wir würden zusammen fernsehen – ich konnte meine Freunde anrufen –, mit Patrick telefonieren! Ob er schon hier war? Doch, bestimmt hatte er gleich nach Erhalt der Nachricht die erste Maschine von New York nach Italien genommen. Nur, ob man ihn benachrichtigt hatte... Wieder im eigenen Bett schlafen, in meinem schönen, ruhigen Zimmer. Das hier hatte nichts mit mir zu tun. Es war ein Irrtum, bald würde alles vorbei sein.

Der Rucksack blieb stehen. Das war's also. Während ich auf Anweisung wartete, sah ich im Geiste schon die Straße vor mir, die ganz in der Nähe verlief, vielleicht mit einer Tankstelle und einem dieser Einkaufszentren mit angeschlossenem Café- und Restaurantbetrieb, wie sie draußen auf dem Land üblich sind. Ich legte mir eine erste Erklärung zurecht, erwog besorgt, daß man mich für verrückt halten könnte, wenn ich so mir nichts, dir nichts hereingeschneit kam und nicht einmal ein paar Münzen zum Telefonieren bei mir hatte. Womöglich hatte noch gar nichts in der Zeitung gestanden... Seit wann wurde ich eigentlich vermißt? Mir kam es wie eine Ewigkeit vor, aber...

»Hier?«

»Doch nicht mit dem windigen Spielzeug. Nimm das Gewehr.«

Mir brannten die Ohren, mein Herz hämmerte. Den Befehl hatte der Rucksack gegeben. Sie würden mich nicht freilassen – umbringen wollten sie mich. Nicht, daß ich in Panik geraten wäre, ich empfand zuerst gar nichts. Dann erfaßte mich eine große Woge von Traurigkeit, und ich hob den Kopf. Mein Gesicht sollte dem Himmel zugekehrt sein, auch wenn ich ihn nicht sehen konnte. Aber der Schießprügel stupste meinen Kopf wieder nach unten, und der Rucksack befahl: »Los, vorwärts.«

Ich hörte den Schießprügel hinter mir hantieren, dann das unverwechselbare Klicken: Er hatte sein Gewehr durchgeladen. Ich wartete mit gesenktem Kopf. Er schoß. Ein warmes Rinnsal sickerte über mein Gesicht, tropfte auf meinen Stiefel – erst ein Spritzer, dann noch einer und noch einer.

Die Detonation, das sirrende Pfeifen der Kugel dröhnten noch in meinem Kopf, als in der Ferne ein zweiter Schuß fiel, wie ein Echo.

»Alles klar«, sagte der Rucksack.

Schießprügel führte meine Hand wieder an den Rucksack und stieß mich auffordernd ins Kreuz.

»Weiter.«

Sie hatten mich nicht umgebracht. Aber sie hatten mich auch nicht freigelassen. Sie hatten lediglich ein Signal gegeben, und dieses Signal war beantwortet worden. Man hatte sich mit Gewehrschüssen verständigt. Wir befanden uns so fernab jeder Zivilisation, daß keine noch so armselige Behausung, keine Menschenseele sie daran hinderte, sich mit Gewehrschüssen zu verständigen. Das Blut, das von meiner Schläfe rann, stammte von dem Schlag, den er mir versetzt hatte, wahrscheinlich mit einem Pistolenknauf. »Los, vorwärts.« Der Alptraum ging weiter.

Von da an wurde das Gelände immer unwegsamer. Lange Zeit zwängten wir uns durch dichtes Dornengestrüpp, und ich hörte, wie der Rucksack mit einer Art Buschmesser sich eine Bahn schlug, wohl die einzige Möglichkeit, überhaupt weiterzukommen. Das letzte Wegstück war das allerschlimmste, ein offenbar völlig undurchdringliches Dickicht, in das man jedoch schon vorab eine niedrige Tunnelschneise geschlagen hatte. Durch die mußten wir stundenlang auf allen vieren kriechen, und mir brannten Beine und Rücken von der ungewohnten Anstrengung. Dornenranken ritzten Wunden in Kopfhaut und Gesicht, Hände und Knie, und ein stacheliger Zweig bohrte sich so tief in meinen Handballen, daß er steckenblieb und ich nicht weiterkonnte. »Bitte warten Sie, ich kann so nicht...«

»Klappe! Vorwärts!« Der Befehl kam wie immer im Flüsterton. Aus Furcht, wie mir schien, aber wieso? Erst feuern sie Gewehrschüsse ab, dann flüstern sie. Was hätten sie in dieser Einöde wohl zu befürchten? Es gelang mir, mich von dem Zweig loszureißen, doch der Dorn blieb im Fleisch stecken. Wir krochen weiter. Nicht lange danach spürte ich, wie der Rucksack sich vor mir aufrichtete. Offenbar waren wir auf einer Lichtung angekommen. Schießprügel schubste mich vorwärts, ein fremdes Paar Hände zog mich hoch, fesselte mich mit einer Kette und drückte mich, den Rücken gegen einen Baumstamm gelehnt, zu Boden. Ich spürte, wie sich die Kette straffte,

als der Fremde das freie Ende um den Baum wickelte. Nicht nur seine Hände waren mir fremd, auch sein Geruch: die schale, talgige Ausdünstung eines Metzgerladens. Dieser Geruch ist mit ein Grund dafür, daß ich kein Fleisch esse. Knirschende Schritte, die sich entfernten. Ich saß mäuschenstill und lauschte angespannt. Da ich nichts sehen und nicht einmal mehr tasten konnte, konzentrierte ich mich ganz und gar auf mein Gehör. Anfangs hörte ich nur gedämpftes Gemurmel. Wahrscheinlich wollten sie nicht, daß ich etwas mitbekam, aber dann entbrannte unversehens ein Streit, und ich konnte einen sardinischen Zungenschlag heraushören. Ich verstand zwar nicht, worum es ging, aber was Schießprügel und Rucksack betraf, so hatte ich offenbar richtig geraten: Die beiden fürchteten sich vor denen, die sie hier erwartet hatten. Nach einem erbitterten Wortwechsel raschelte und knackte es so heftig hinter mir im Gestrüpp, als ob jemand eilends das Weite suchte. Wie ich später erfuhr, hatten Schießprügel und Rucksack den Rückweg angetreten.

Jemand kam und löste meine Fesseln. Ich wollte mir gerade die schmerzenden Handgelenke massieren, als die Kette auch schon um meinen Fuß geschlungen und strammgezogen wurde. Ich hörte das Vorhängeschloß einschnappen, und eine Stimme flüsterte: »Nach rechts drehen und runter auf alle viere.«


Lesezitat nach Magdalen Nabb - Alta moda


weitere Bücher von
Magdalen Nabb:



Geburtstag in Florenz







© by Manuela Haselberger
rezensiert am 1999-09-14

Quelle: http://www.bookinist.de
layout © Thomas Haselberger