aben Sie schon einmal versucht ein Pferd zu zeichnen? … oder einen Löwen? … dass Sie dazu nur drei Farben haben - rot, schwarz, gelb - und als Leinwand auf der Felswand einer schlecht erleuchteten Höhle arbeiten, darf Sie dabei nicht weiter stören. Allerdings - radieren ist nicht erlaubt und man erwartet von Ihnen nicht nur irgendwelche Strichfiguren, sondern schon fotografieähnliche Abbildungen, übrigens, was das ganze für Sie als Anfänger noch verkomplizieren wird, in einer perspektivisch korrekten Darstellung.
Besonders letzteres, dass entfernte Gegenstände kleiner im Bild erscheinen, als nahe Objekte, lernte der Mensch erst vor ca. 550 Jahren wieder in seiner Malerei zu beherrschen. Und wenn man die damaligen Gemälde betrachtet, so war die Kunst noch lange nicht bei jedem so ausgereift, dass er scheinbar mühelos und spielerisch ganze Gruppen von Objekten oder Tieren abbilden hätte können, die sich teilweise überdecken.
All das handhabte vor mehr als 30000 Jahren bereits ein namenloser Künstler, ein Picasso der Steinzeit. Denn in der Tat, es sind nicht drei, sondern tatsächlich vier Nullen hinter der Drei - mehr als dreimal zehntausend Jahre sind vergangen, bis Jean-Marie Chauvet, Christian Hillaire und Éliette Brunel Deschamps in Frankreich, im Tal der Ardèche, in der Nähe des berühmten Pont d`Arc 1994 eine Höhle begehen und vor atemberaubenden Bildern stehen: Nashörner, Löwen, Pferde, ein kleines Mammut, Wisente, eine mit Fingerspuren stilisierte Eule in einer Schönheit und Deutlichkeit, wie man sie niemals von Menschen, die Jahrzehntausende vor der Antike oder der Renaissance lebten, erwartet hätte.
Im Vergleich zu allen anderen auf der Welt bislang entdeckten Höhlen- und Ritzzeichnungen ist es der hohe, künstlerische Anspruch, der die Grotte Chauvet bei Vallon über alle bislang bekannten menschlichen Ausdrucksmöglichkeiten erhebt. Zwar sind noch andere - im wahrsten Sinn des Wortes - steinalte Zeugnisse menschlichen Kunstschaffens aus fernen Zeiten zu uns gekommen, die Venus von Willmersdorf, oder der Löwenmensch (im Museum in Ulm/Donau zu bestaunen), aber ein derart reichhaltiges, detailgetreues Zeugnis seiner Lebenswelt an ferne Generationen zu übermitteln ist wohl keinem Menschen bislang in diesem Umfang gelungen.
Einerseits schade, dass man die Grotte als Normalsterblicher nicht selbst besichtigen kann, andererseits vollkommen berechtigt, wenn man verfolgt, welche Schäden Touristenscharen in Ägypten in den pharaonischen Gräbern hinterlassen.
Zum Trost für alle Ausgesperrten gibt es in Vallon selber ein kleines Museum, das mit einigen Exponaten und Repliken und einem (franz.sprachigen) halbstündigen Film aufwartet.
Ein wirklich besseres Angebot ist dahingegen der prächtige Bildband "Grotte Chauvet", der auf ca. DIN A3-Größe einen repräsentativen Eindruck hinterlässt.
Für Literaturfans von Jean M. Auel, die Romane über die Steinzeit schreibt und übrigens zu den Auserwählten gehörte, die die Höhle selbst in Augenschein nehmen durften, ist der Bildband ein unumgängliches Muss; kunstsachverständige Menschen wiederum werden nicht umhin kommen kopfschüttelnd die Linienführung und den entschiedenen Strich des steinzeitlichen Malers zu bewundern, denn selbst heute wäre der Prozentsatz der Menschen, die so etwas hervorbrächten, ein verschwindend kleiner. Und - welchem Künstler aus unserer Zeit wird es vergönnt sein in mehr als 30000 Jahren mit einer Vernissage seiner Werke eine zukünftige Generation zu beeindrucken?
© thomas haselberger