Bartholomew Lampion erblindete im Alter von drei Jahren. Die Ärzte entfernten ihm wegen einer aggressiven Krebserkrankung die Augen, um ihm das Leben zu retten. Obwohl er von nun an keine Augen mehr hatte, erlangte Barty mit dreizehn Jahren seine Sehkraft wieder.
Dieses plötzliche Auftauchen aus einem Jahrzehnt der Finsternis in den strahlenden Glanz des Lichts verdankte er nicht der Kraft eines Wunderheilers. Die Wiederherstellung seiner Sehkraft war ebenso wenig von himmlischen Posaunenklängen begleitet wie seine Geburt.
Eine Achterbahn spielte bei seiner Genesung eine Rolle und außerdem eine Möwe. Und auch Bartys sehnlichen Wunsch, dass seine Mutter vor ihrem zweiten Tod stolz auf ihn sein sollte, darf man in seiner Bedeutung nicht unterschätzen.
Sie starb zum ersten Mal an dem Tag, an dem Barty geboren wurde.
Am 6. Januar 1965.
Die meisten Bewohner von Bright Beach, Kalifornien, hatten für Bartys Mutter, Agnes Lampion - auch Kuchenfee genannt -, nur freundliche Worte. Sie lebte für ihre Mitmenschen, hatte immer ein offenes Herz für deren Ängste und Wünsche. In unserer materialistischen Welt erzeugte ihr selbstloses Wesen Misstrauen bei jenen, deren Blut nicht weniger Zynismus als Eisen enthielt. Aber selbst diese verhärteten Seelen mussten zugeben, dass die Kuchenfee zahllose Bewunderer, aber keine Feinde hatte.
Der Mann, der die Welt der Familie Lampion in der Nacht, als Barty geboren wurde, aus den Angeln hob, war nicht ihr Feind. Er war ein Fremder, aber die Wege ihres jeweiligen Schicksals kreuzten sich und bildeten ein gemeinsames Kettenglied.
Am 6. Januar 1965, kurz nach acht Uhr, während Agnes gerade damit beschäftigt war, sechs Heidelbeerkuchen zu backen, setzten bei ihr die Wehen ein. Diesmal war es kein falscher Alarm, sie spürte nämlich nicht nur ein Ziehen im Unterbauch und in der Leistengegend, sondern auch einen Schmerz, der vom Rücken her in den gesamten Bauchraum ausstrahlte. Wenn sie herumlief, war das Ziehen schlimmer, als wenn sie still stand oder saß: ein weiteres Zeichen dafür, dass es ernst wurde.
Es war kein unerträglicher Schmerz. Die Kontraktionen kamen in regelmäßigen, aber weit auseinander liegenden Abständen. Sie weigerte sich also, ins Krankenhaus zu fahren, bevor die für diesen Tag geplanten Arbeiten erledigt waren.
Bei einer Erstgebärenden dauert die Eröffnungsperiode der Wehen durchschnittlich zwölf Stunden. Da Agnes sich in jeder Hinsicht für durchschnittlich hielt, gewöhnlich bis hin zu dem grauen Trainingsanzug mit elastischem Taillenbund, den sie in ihrer babybedingten Unförmigkeit aus Gründen der Bequemlichkeit trug, rechnete sie nicht damit, dass die Austreibungsperiode vor zehn Uhr abends einsetzen würde.
Joe, ihr Mann, hätte sie am liebsten schon lange vor der Mittagszeit ins Krankenhaus gebracht. Nachdem er den Klinikkoffer für seine Frau gepackt und im Wagen verstaut hatte, sagte er alle seine Termine ab und drückte sich in ihrer Nähe herum, allerdings immer darauf bedacht, sich nicht im
gleichen Zimmer aufhalten wie sie, damit sie ihn nicht, entnervt von seiner erdrückenden Fürsorge, ganz und gar aus dem Haus scheuchte.
Jedes Mal, wenn er hört, wie Agnes leise aufstöhnte oder vor Schmerz zischend die Luft durch die Zähne einsog, versuchte er die Abstände der Kontraktionen zu messen. Er hatte im Laufe des Tages so oft auf seine Armbanduhr geschaut, dass er bei einem zufälligen Blick in den Flurspiegel den Schatten eines Sekundenzeigers zu sehen glaubte, der sich unentwegt in seinen Augen drehte.
Auch wenn man es ihm nicht unbedingt ansah, war Joe eine Kämpfernatur. Mit seinem käftigen Körperbau hätte man ihm ohne weiteres die Rolle des Samson abgenommen, der die Säulen umriss und das Dach über den Philistern zum Einsturz brachte. Aber er besaß ein sanftmütiges Wesen und nichts von der Arroganz und der Hauruck-Mentalität, die vielen Männern Statur eigen ist.
Obwohl er ein zufriedener und fröhlicher Mensch war, glaubte er, so über alle Maßen mit Glück, guten Freunden und einer wunderbaren Familie gesegnet zu sein, dass ihm das Schicksal eines Tages die Rechnung für seine überreichen Gaben präsentieren werde.
Er besaß keine Reichtümer, hatte aber ein gediegenes Auskommen, und die Vorstellung, alles gesparte Geld eines Tages vielleicht zu verlieren, schreckte ihn nicht6, weil er wusste, dass er mit harter Arbeit und Fleiß immer seinen Lebensunterhalt verdienen konnte. Was ihn in unruhigen Nächten allerdings manchmal wach hielt, war die unausgesprochene Angst, die Menschen zu verlieren, die er liebte. Das Leben war für ihn wie das erste Eis auf einem winterlichen Teich: dünner, als es dem Betrachter erscheint, von verborgenen Rissen durchzogen und darunter nichts als kalte Dunkelheit.
Abgesehen davon, war Agnes - gleichgültig, was sie selbst von sich halten mochte - für Joe Lampion alles andere als durchschnittlich. Sie war großartig, unvergleichlich. Er stellte sie nur deshalb nicht auf einen Sockel, weil ein bloßer Sockel nicht ausgereicht hätte, sie so zu erheben, wie sie es verdiente.
Sollte er sie je verlieren, würde das auch sein Ende sein.
Den ganzen Vormittag über verfolgten Joe Lampion düstere Fantasien von sämtlichen medizinischen Komplikationen, die bei einer Geburt eintreten konnten. Schon vor Monaten hatte er mehr als genug zu diesem Thema aus einem dicken Nachschlagewerk erfahren, bei dessen Lektüre ihm eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken gelaufen war, wie er es beim spannendsten und unheimlichsten Thriller noch nicht erlebt hatte.
Außerstande, die anschaulichen Lehrbuchbeschreibungen vor- und nachgeburtlicher Blutungen und eklamptischer Krämpfe aus seinem Kopf zu vertreiben, stürmte er kurz vor eins durch die Schwingtür in die Küche und verkündete: »Also gut, Agnes, lange genug gewartet. Wir fahren jetzt. «
Sie saß am Frühstückstisch und schrieb Grüße auf die Geschenkkarten, die den sechs am Morgen gebackenen Heidelbeerkuchen beigelegt werden sollten. »Mir geht es gut, Joey. «
Agnes war die Einzige, die ihn verniedlichend Joey nannte. Immerhin war er einen Meter neunzig groß, wog über hundert Kilo, und sein zerklüftetes Gesicht sah aus wie ein Steinbruch, solange Furcht erregend, bis man seine leise, melodische Stimme hörte oder ihm in die freundlichen Augen blickte.
»Wir fahren jetzt sofort ins Krankenhaus«, sagte er beharrlich und baute sich vor ihr am Tisch auf.
»Nein, Liebling, noch nicht.«
Obwohl Agnes nur einen Meter sechzig groß und, wenn man das Gewicht ihres ungeborenen Kindes abzog, nicht einmal halb so schwer war wie Joey, hätte er sie auch dann nicht gegen ihren Willen vom Stuhl heben können, wenn er eine Motorwinde sowie die Entschlossenheit mitgebracht hätte, davon Gebrauch zu machen. In Auseinandersetzungen mit Agnes war Joey stets der geschorene Samson, niemals Samson mit dem wilden Haarschopf.
Mit einem finsteren Blick, der eine Klapperschlange bewegt hätte, sich schlaff hingegossen wie ein Regenwurm in ihr Schicksal zu ergeben, sagte Joey: »Bitte?«
»Ich muss die Begleitkarten noch schreiben, damit Edom morgen früh die Kuchen für mich ausliefern kann.«
»Mir macht im Augenblick nur eine Lieferung Sorgen.«
»Und ich sorge mich eben um deren sieben. Sechs Kuchen und ein Baby. «
»Du und deine Kuchen«, sagte er entnervt. S. 11-16
Lesezitate nach Dean Koontz - Der Geblendete