Lesezitat




Lesezitat

Wenn dies die beste aller Welten ist, wie müssen dann erst die anderen sein? (VOLTAIRE: CANDIDE)

José Antonio Maria Vaz

Auf einem Hausdach aus sonnengebranntem, rötlichem Lehm stehe ich, José Antonio Maria Vaz, in einer schwülen, feuchten Nacht und warte auf den Untergang der Erde. Ich bin schmutzig und fiebrig, meine Kleider hängen in Fetzen, als wären sie auf wilder Flucht vor meinem dürren Leib. In den Taschen habe ich Mehl, und das ist für mich kostbarer als Gold. Denn vor einem Jahr stellte ich noch etwas dar, ich war Bäcker, im Gegensatz zu heute, da ich nichts bin, ein Bettler, der tagsüber rastlos unter der sengenden Sonne umherstreift und die endlosen Nächte auf einem verlassenen Hausdach verbringt. Aber auch Bettler haben Zeichen, die ihnen eine Identität verleihen, sie von allen anderen unterscheiden, die ihre Hände an den Straßenecken feilbieten, als wollten sie sie weggeben oder ihre Finger verkaufen, einen um den andern. José Antonio Maria Vaz ist der zerlumpte Kerl, der bekannt wurde als Chronist der Winde. S. 7

Als ich , José Antonio Maria Vaz, in Dona Esmeraldas Bäckerei eintrat, der sie den Namen ''Bäckerei des Heiligen Brots" gegeben hatte, war ich gerade achtzehn geworden. Ich war damals schon ein ausgebildeter Bäcker, auch wenn ich noch keinen Meisterbrief besaß. Aber ich hatte Brot gebacken, seit ich sechs war.

Mein Vater hatte mich zu seinem Onkel gebracht, Meister Fernando, der eine Bäckerei in dem afrikanischen bairro betrieb, das hinter dem Flughafen lag. Mein Vater, sein Leben lang ein äußerst unrealistischer Mann, hatte eines Tages meine Hände betrachtet und entschieden, sie seien geeignet, Croissants zu formen. Meine Zukunft und mein Auskommen sollte ich als Bäcker finden. Wie fast alle Afrikaner waren wir arm. S. 31

Ich wuchs zu der Zeit auf, als noch niemand von den jungen Revolutionären gehört harte, die bereits die nördliche Grenze überschritten hatten. S. 31

Erst später, als die jungen Revolutionäre in die Stadt eingezogen waren und man Dom Joaquims Reiterstandbilder von ihren Sockeln gerissen hatte, begannen die Menschen sich ernstlich zu empören. Es war, als bemerkten sie erst jetzt das jahrhundertealte Unrecht, dem sie unterworfen gewesen waren, und sie gingen davon aus, daß die Befreiung, von der die jungen Revolutionäre sprachen, die Freiheit bedeutete, nicht mehr arbeiten zu müssen. Als sie erkannten, daß Freiheit bedeutete, genauso hart zu arbeiten, aber obendrein auch selbständig denken und die Arbeit planen zu müssen, die zu tun war, waren viele im Innersten ihrer Seele doch sehr verwirrt. S. 32

Dann ging alles sehr schnell. Der Mann mit den schmalen Augen kam plötzlich zu mir und gab mir ein Gewehr, das sehr schwer war. Er sagte mir, ich sollte meinen Zeigefinger um den Abzug legen und den Jungen erschießen, der vor mir stand. Obwohl ich nicht verstand, was er meinte, erfüllte mich wieder große Furcht.

- Wenn du leben willst, mußt du ihn erschießen wiederholte der Mann mit den schmalen Augen.

Wenn du nicht schießt, bist du kein Mann. Dann darfst du nicht am Leben bleiben.

- Ich kann nicht meinen Bruder erschießen, sagte ich. Außerdem bin ich kein Mann. Ich bin noch ein Kind.

Es war, als hätte er nicht gehört, was ich sagte.

- Schieß, wenn du leben willst, sagte er nur. Erschieß ihn.

Der Junge, der vor mir stand, hieß Tiko. Er war der Sohn von einem der Brüder meines Vaters, und wir hatten oft zusammen gespielt, obwohl er mehrere Jahre älter war als ich. Jetzt stand er vor mir und weinte. Ich sah ihn an, und ich wußte, niemals würde ich ihn erschießen können. nicht einmal, um mein eigenes Leben zu retten. Ich begriff, daß der Mann mit den schmalen Augen es ernst meinte. Er würde mich töten, vielleicht mit seinen eigenen Händen, wenn ich nicht tat, was er sagte.

In diesem Moment wurde ich erwachsen, obwohl ich erste ein Kind war. Ich faßte einen Entschluß, der mit Sicherheit bedeuten würde, daß ich sterben mußte. Aber wenn ich nicht das tat, von dem ich überzeugt war, daß ich es tun mußte, würde mein Leben jeden Sinn verlieren. Ich konnte meinen Bruder nicht erschießen.

Ich dachte an meine Schwester, die in dem Mörser getötet worden war. Ich wollte, daß sie in meinem Kopf war, wenn ich starb. Ich wußte ja, wir würden uns bald wiedersehen, wenn sie auch mich totgeschlagen harten.

Ich legte den Zeigefinger um den Abzug, richtete schnell die Gewehrmündung auf den Mann mit den schmalen Augen und drückte ab. Der Schuß traf ihn mitten in die Brust, und er wurde zu Boden geschleudert. S. 66

........... weiter....


Lesezitat aus Henning Mankell - Der Chronist der Winde


Autorenportrait

Henning Mankell


Bookinists Buchtipp zu

Henning Mankell

TEA-BAG

© 2003

Jesper Humlin hat es nicht leicht: er ist ein gefeierter Lyriker, doch sein Verleger besteht darauf, dass er endlich einen Kriminalroman schreibt. Seine Freundin will ein Kind von ihm, der Kurs seiner Wertpapiere ist gefallen, und seine achtzigjährige Mutter hat eine Agentur für Telefonsex eröffnet. Da bringt eine Lesung die Wende in seinem Leben: Er lernt dort Tea-Bag, ein schwarzes Flüchtlingsmädchen, und ihre Freundinnen kennen. Sie wollen Schriftstellerinnen werden und bei Humlin in die Lehre gehen. Und nach und nach erfährt er ihre Geschichten...

Klappentext
S. Fischer -Verlag



König Salomon aus den Slums
Henning Mankell - Der Chronist der Winde

Mit seinem Roman "Der Chronist der Winde" hat Henning Mankell all den Straßenkindern dieser Erde ein Denkmal gesetzt. Jenen, die vor Jahren in Brasilien wie lästiges Ungeziefer aus dem Weg geräumt und getötet wurden, gesteht Mankell in seinem Buch ihr Menschenrecht zu.

Eigentlich stammt Mankell aus Schweden, doch seit Jahren ist er zum Pendler zwischen den Welten geworden: Maputo in Mosambik ist genauso sein Zuhause wie Stockholm, wo seine berühmten Wallander-Krimis entstanden sind.

Mit dem Chronist der Winde erzählt Mankell ein großes, afrikanisches Märchen. Eigentlich lässt er erzählen, und zwar den Bäcker José Antonio Maria Vaz. Er hat trauriges zu berichten: Neun heiße Nächte verbringt José auf dem Dach des städtischen Theaters am Sterbelager des zehnjährigen Straßenkindes Nelio.

Nelio wurde angeschossen; wieso, das weiß José nicht - noch nicht, weil Nacht für Nacht schwindet Nelios Lebenslicht mehr und mehr, aber Zug um Zug erfährt José eine Geschichte, seine Geschichte, wegen der er am Ende dieser neun Tage seinen Bäckerberuf aufgeben wird, um künftig von Nelio zu berichten, von seinem armen, schmutzigen Leben als Straßenkind und seiner unglaublichen Erfahrung und Lebensweisheit, als hätte er nicht zehn, sondern bereits zehn mal zehn Jahre auf dieser Erde gelebt.

Nelios Schicksal ist wie eines von so vielen: Als Bürgerkriegskind verliert es seine Eltern - Banditen überfallen sein Dorf und rauben die Menschen. Nelio soll ein Guerillero werden; ein Mann bildet die neuen Kinder an der Waffe aus - er drückt Nelio einen Revolver in die Hand und befiehlt ihm einen seiner Kameraden, seinen Freund, seinen kleinen Bruder zu erschießen. Das war der Augenblick, in dem Nelio erwachsen wurde, eigentlich eher zum geistigen Greis: Er schießt, aber nicht auf den kleinen Jungen, sondern auf den überraschten Ausbilder, und flieht.

Eigentlich ist dies schon seine ganze Geschichte beziehungsweise seine Nicht-Lebensgeschichte: Entwurzelt, heimatlos, elternlos, ohne Geld, Wohnung, Freunde, Nahrung, kommt er in die Stadt, die große, mit ihren hunderten von Straßenkindern, mit ähnlichen Biografien, Leidensgenossen, die sich organisieren, überleben - einfach leben.

Und Nelio weiß sich zurechtzufinden, er wird nach und nach nicht nur akzeptiert, sondern beinahe schon zur städtischen Berühmtheit; einer, der noch nie von den Polizisten geschlagen oder misshandelt wurde, einer, der abends allein schläft und an einem Ort, den niemand finden kann.

Nelio ist ein geistiger Macher, ein Organisator, ein Humanist, vielleicht sogar einer jener alten afrikanischen Götter den die Menschen vergessen haben, weil sie verhungert, ermordet oder vertrieben worden sind. Ein Gott, der noch einmal die Menschen sehen will, bevor ihn der Tod der Vergessenheit ereilt.

Man spürt, dass Mankell hier autobiografisches verarbeitet: Seit Jahren ist er immer für rund ein halbes Jahr in Mosambik, wo er in Maputo ein Theater aufbaut. Dieses Theater ist auch der zentrale Ort von Nelios Geschichte, das Hilfsmittel, mit dem Nelio/Mankell den Menschen von dem erzählt, was in der Welt vor sich geht.

Ein wunderbares Buch, gefühlsstark, wortgewaltig, schicksalsgeladen, das so endet wie es beginnt: "Ich, José Antonio Maria Vaz, ein einsamer Mann auf einem Dach, unter dem tropischen Sternenhimmel, habe eine Geschichte zu erzählen .... "
© thomas haselberger

Henning Mankell - Der Chronist der Winde
aus dem Schwedischen von Verena Reichel
Originaltitel: © 1995, "Comédia infantil"
© 2000, Wien, Zsolnay Verlag, 370 S., 19.90 € (HC)
© 2001, DHV Hör-Verlag,1 Cass, 20.50 € (MC)


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Fortsetzung der Lesezitate ...

Eine Woche später erreichten sie nachmittags das Meer. Sie waren auf eine Anhöhe gelangt, als Yabu Bata plötzlich halt machte und nach vorn deutete. Nelio folgte ihm im Abstand von einigen Schritten. Wie angewurzelt blieb erstehen und vergaß sogar, den Koffer abzusetzen, als er das blaue Wasser erblickte, das sich vor ihm ausbreitete. Ohne daß er es erklären konnte, hatte er sofort das deutliche Gefühl, nach Hause gekommen zu sein.

Er, der nicht einmal sicher gewesen war, ob es das Meer wirklich gab, der geglaubt harte, es sei vielleicht eine Erfindung seines Vaters. Jetzt sah er es vor sich und hatte sofort dieses Heimatgefühl.

Ein Mensch konnte sich also irgendwo zu Hause fühlen, wo er noch nie gewesen war. Oder war es in unser Bewusstsein eingeschrieben, vom Augenblick unserer Geburt an, als grundlegender menschlicher Zug, daß wir uns alle in der Nähe des Meeres zu Hause fühlen müssen? Nelio hatte an der Seite von Yabu Bata gestanden, aufs Meer hinausgeschaut, das sich vor seinen Augen ständig weiter auszudehnen schien, und diese Gedanken gehabt. Gedanken, die von selber entstanden, ohne Mühe, Gedanken, die ihn überraschten, da er noch nie zuvor in seinem Leben etwas in der Art gedacht hatte. S. 81

Er hatte oft darüber nachgegrübelt, welche Macht der Zufall über den Menschen hat. Die Wörtchen wenn und wenn nicht waren wichtiger als alle anderen Worte. Niemand konnte sie übergehen, niemand konnte abstreiten, daß sie immer in der Nähe des Menschen waren, als Symbole für das Unberechenbare, das unser Leben formt. Eines Morgens, als er auf einer seiner ziellosen Wanderungen durch die Stadt unterwegs war, die ihm oft die stärksten Erlebnisse bescherten, hatte er ganz in der Nähe des Theaters und der Bäckerei eine Gruppe Polizisten entdeckt, die einen Straßenjungen aufgegriffen hatten und wütend mit ihren schwarzen Knüppeln auf ihn eindroschen. Nelio hatte ihn schon früher bemerkt, er war Anführer eines Rudels von Straßenkindern, und sein Name war Cosmos. Wie die meisten, die eine Gruppe von Kindern anführten und ihr Revier bewachten, war er ein paar Jahre älter als die anderen, vielleicht dreizehn oder vierzehn. Er war Nelio aufgefallen, weil er die kleineren Jungen nur selten schlug, sie nicht einmal anschrie oder ihnen unnötige Aufträge gab. S. 122

Nelio fand seinen Platz im Rudel, ohne einen anderen zu verdrängen, jeder hatte seine Position zu bewachen, die geschwächt oder nach oben verschoben werden konnte, aber immer war es Cosmos, der bestimmte, bald launisch, bald klug und mit sicherem Urteil. Doch vom ersten Moment an bewegte Nelio sich im Rudel in seinen eigenen Bahnen. Erst Cosmos, dann auch die anderen, zuletzt sogar Tristeza, der langsam im Kopf war, sahen ein, daß Nelio nicht war wie irgend jemand sonst. Er war eine ganz eigene Art Mensch. Er benahm sich wie die anderen, lernte rasch ihre Sprache und Gebräuche, trotzdem war er ein Fremder, und er war es auf eine solche Weise, daß niemand auf den Gedanken kam sich zu fragen, warum es sich so verhielt. S. 124

Viel später hatte Nelio begriffen, daß es eben diese Würde der schmutzigen, zerrauften Lumpengestalten war, die die Polizei so gereizt hatte, daß sie beschlossen, Cosmos die Furcht in den Leib zu prügeln, eine Furcht, die er dann auf die anderen in der Gruppe übertragen sollte. Aber das war der Polizei nicht gelungen, und Nelio empfand es, als ob er in einer wandernden, hüpfenden, tanzenden, lachenden Festung lebte, in deren Schutz er wie die anderen unverletzbar war. Mit der Zeit hatte er sie kennengelernt, einen um den andern, und er hatte erkannt, daß sie, obwohl Kinder, erwachsen waren, daß sie, obwohl noch kaum geschlechtsreif, alte Männer waren, denn ihre Geschichten erstreckten sich über Abgründe von Erfahrung, jeder ein Held, Schurke und Opfer in seinem eigenen Drama. Es vibrierte in ihren Namen und ihren schwarzen Körpern. S. 127

Die satten Tage konnten Cosmos in eine philosophische, träumerische Nachdenklichkeit versetzen.

- Wenn du Tristeza oder Alfredo oder einen der anderen fragen würdest, was sie sich am meisten im Leben wünschen, was meinst du, würden sie antworten?

Nelio überlegte.

- Verschiedenes, meinte er.

- Da bin ich nicht sicher, sagte Cosmos. Gibt es etwas, das über allem andern steht? Über Müttern und satten Bäuchen und fernen Dörfern und Kleidern und Autos und Geld?

Sie lagen schweigend da, während Nelio nachsann.

- Personalausweise, sagte er schließlich. Ein Papier mit einem Foto, das sagt, daß man genau der ist, der man ist, und niemand anderer.

- Ich wußte, daß du es erraten würdest, sagte Cosmos. Das ist es, wovon wir träumen. Personalausweise. Aber nicht, damit wir wissen, wer wir sind. Das wissen wir auch so. Sondern damit wir ein Papier besitzen, das uns das Recht gibt, der zu sein, der wir sind.

- Ich habe nie einen Personalausweis besessen, meinte Nelio nachdenklich. S. 138-139

Am letzten Tag, an dem Nelio lebte, war die Sonne ganz nah bei meinem Geist. Wenn ich meine Lungen leerte, entflammte sich die Luft und fiel wie schwarze Asche auf die Steine der Straße. Ich habe nie, weder früher noch später, eine solche Hitze erlebt wie an diesem Tag. Nirgends war Kühle, sogar der Wind, der vom Meer her in die Stadt drang, schien vor Ermattung zu keuchen. Unruhig wanderte ich durch die Straßen, drängte mich in den staubigen Schatten, wo die Menschen vergeblich Linderung suchten, und kämpfte gegen einen zunehmenden Schwindel an, der mich immerzu umwerfen wollte. Es war, als wüßte ich nicht mehr, wo ich bin, als wäre alles, was mir geschah, ein Irrtum, für den eigentlich niemand verantwortlich war, der keinen kümmerte. Zum ersten Mal sah ich die Welt so, wie sie war, die Welt, die Nelio durchschaut hatte, obwohl er noch nicht einmal erwachsen war.

Was glaubte ich zu sehen? Der verrostete Motor in einem ausgebrannten Traktor sprach zu mir, wie ein höhnisches Poem, von einer Welt, die vor meinen Augen langsam zerfiel. Ich sah einen Jungen, ein Straßenkind, wütend den Sand peitschen, als strafe er die Erde für sein eigenes Elend. Ein einsamer Geier segelte lautlos über meinem Kopf. Er trieb auf den wirbelnden Aufwärtswinden, unempfindlich gegen die Sonnenstrahlen, die sein Gefiefer durchbohrten. Der Schatten des Vogels fiel manchmal auf meinen Kopf wie ein Eisenlot, das mich zu Boden preßte. Ich sah einen alten schwarzen Mann nackt neben einer Wasserpumpe stehen und sich waschen. Trotz der Hitze schrubbte er seinen Körper mir gewaltiger Energie, als risse er sich eine ausgediente alte Haut ab. Unter der erbarmungslosen Sonne entdeckte ich das wahre Gesicht der Stadt. Ich sah, wie die Armen gezwungen wurden, ihr Leben roh zu essen. Ihnen blieb keine Zeit, ihr Leben zu gestalten, da sie ständig an der äußersten Bastion des Überlebens kämpfen mußten. Ich sah diesen Tempel des Irrsinns, der die Stadt war, vielleicht sogar die Welt, und er glich allem, was ich um mich sah. Ich stand mitten in der dunklen Kathedrale der Ohnmacht. Die Mauern fielen in Brocken herab und ließen dicke Staubschichten aufwirbeln, die farbigen Glasfenster waren längst verschwunden. Ich sah mich um, und alle, die mich umgaben, waren arm. Die anderen, die Reichen, hielten sich von den Straßen fern, versteckten sich hinter Mauern in ihren Bunkern, wo rauschende Maschinen die Luft ständig kühlten. Die Erde war nicht mehr rund, sie war wieder flach geworden, und die Stadt lag an ihrem äußersten Ende. Wenn die heftigen Regenfälle die Häuser irgendwann wieder von den Steilhängen rissen, würden sie nicht nur in den Fluß stürzen, sondern auch über den äußersten Rand geworfen werden, wo kein Boden wartete. S. 227-228

Mir war klar geworden, daß ich nicht länger Bäcker sein konnte. Ich hatte einen anderen Auftrag für die Zeit, die mir noch vom Leben blieb. Ich mußte Nelios Geschichte erzählen. Die Welt konnte nicht ohne sie auskommen. Sie durfte nicht vergessen werden.

Noch heute, nach mehr als einem Jahr, erinnere ich mich ganz genau an diesen Augenblick. Eigentlich faßte ich gar keinen Entschluß. Der Entschluß war schon in mir gewesen, aber erst jetzt erkannte ich, was ich zu tun hatte. S. 257

 

Lesezitate aus Henning Mankell - Der Chronist der Winde


Bookinists Buchtipp zu

Henning
Mankell

Das Auge des Leoparden

© 2004

In einer geschliffenen, sehr poetischen Sprache erzählt Mankell über die Schwierigkeiten eines Europäers in Afrika heimisch zu werden. Einem Kontinent in Schräglage. "Heute sehe ich, dass die Welt Schlagseite bekommen hat, sehe die Armut und das Leiden."

Eigentlich stammt Mankell aus Schweden, doch seit Jahren ist er zum Pendler zwischen den Welten geworden: Maputo in Mosambik ist genauso sein Zuhause wie Stockholm, wo seine berühmten Wallander-Krimis entstanden sind.



© 19.10.2000 by
Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de