Am schwersten geht es sich auf Dächern von Gebäuden, die Im Lauf der letzten hundert Jahre entstanden sind. Sie sind meist mit Dachziegeln oder Dachplatten gedeckt und sehr steil. Es scheint fast, als hätten erst Architekten des 20. Jahrhunderts wie Lutyens und Mackintosh und Voysey begriffen, daß es hier ziemlich viel regnet und bei steilen Dächern das Wasser besser abläuft. Auf flachen Schieferdächern geht es sich am besten, vor allem wenn sie zur Verkleidung der Schräge ein steinernes Gesims oder eine niedrige Mauerbrüstung haben. Je mehr Verzierungen ein Dach hat, je mehr Giebel, Türmchen, Kamine und Mansarden, desto leichter kann man es besteigen. Einzeln stehende Häuser sind für den ernsthaften Dachsteiger indiskutabel. Mögen ihre Dächer noch so flach sein, mögen ihre Gaubenfenster, ihre Giebel und Geländer noch so guten Halt bieten - sie bleiben Inseln. Die Kluft zwischen ihnen und dem Nebenhaus, die einige oder viele Meter breit sein kann, ist das Meer, das sie vom Kontinent trennt. Dachsteiger brauchen Häuserzeilen, in denen ein Haus am anderen steht, nach Möglichkeit nicht durch Kamine getrennt, die sich, von zehn, zwölf Kaminaufsätzen gekrönt, wie hohe Mauern über die ganze Breite des Dachs erstrecken. S. 144
Im September war mit der Zeitlosigkeit ein für allemal Schluß, und seit elf Jahren bin ich so sehr ein "Narr der Zeit" (der Ausdruck stammt von Silver, ich glaube, es ist ein Shakespeare-Zitat) wie jeder andere auch.
In jener Nacht aber hielt die Zeitlosigkeit uns noch umfangen. Ich weiß nicht, wie lange wir drei dort oben saßen, wenig Worte wechselnd und schließlich ganz schweigend, rauchten, Wims Schokolade aßen, auf die Lichter unter uns blickten und zusahen, wie der Mond aufging, hinter einer Wolke verschwand und schließlich verblaßte, bis uns die schleichende morgendliche Kälte nach Mitternacht durch unser Fenster zurück in die Wohnung trieb. Zum erstenmal begleitete Silver mich ins Fisherton-Verlies, gemeinsam schlichen wir die eiserne Treppe hinunter. Beryl war am nächsten Tag nicht zu erwarten, und Selinas Überraschungsbesuche fanden nie vor zehn statt. Mir war trotzdem nicht ganz wohl dabei, es wurde allmählich ein bißchen viel an Schwindel und Täuschung, fand ich und nahm mir vor, zumindest eine Sache am nächsten Tag zu klären. Ich würde Max sagen, daß mich meine Fachhochschule geschaßt hatte. S. 271
Wie eigenartig, dachte ich, daß wir wie selbstverständlich davon ausgehen, die Unterdrückten, die Benachteiligen, die Opfer seien immer nette Menschen. Tugendhaft und liebenswert, nahezu heiligengleich. Sind sie es nicht - und das Ist oft genug der Fall -, regen sich Groll und der Gedanke, daß sie die Rettung nicht verdienen. Aber der Mensch wird nicht über Nacht vollkommen, nur weil er in Gefahr ist oder in der Falle sitzt. Das sagte ich auch zu Judy, und sie lachte und meinte, bei Geiseln sei das ja in Ordnung, aber Andrew und Alison hätten ihre Lage selbst verschuldet, wenn sie Hilfe erwarteten, müßten sie eigentlich höflicher zu ihren Rettern sein. "Noch habt ihr sie ja auch nicht gerettet", sagte sie. S. 494-495
Fünf Minuten ehe wir gingen, richtete er sich ein bißchen auf und verkündete unvermittelt: "Wenn ich hier rauskomme, bring ich mich um."
Was sagt man darauf? Wenn du erst zu Hause bist, sieht alles anders aus? So darfst du nicht reden? Zu Hause - wo war das? Und was soll ein Mensch machen, dem sein wahres Zuhause für immer verschlossen ist?
Wir küßten ihn, Morna und ich auf die Lippen, Silver auf die Stirn. Mir war zum Heulen, als wir im Krankenhaus die Treppe hinuntergingen. Ich war zum erstenmal dem Bösen begegnet und hatte gesehen, was es anrichten konnte. Was ich bisher für das Böse gehalten hatte, war nur Ignoranz, Torheit und Unverständnis gewesen. An jenem Tag vor unserer Hochzeit, als ich Jonny am Steuer des dicken Wagens sitzen sah, erinnerte ich mich an das Böse, das er verkörperte, und meine Regung, seinen Erfolg zu belächeln und ihn insgeheim zu beglückwünschen, weil er diese flotte Blondine an Land gezogen hatte, verflüchtigte sich im Rauch seiner Zigarette. S. 597
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