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Sie haben mich hierhergeschickt, weil das mit dem Mast passiert ist. Oder vielleicht, damit ich nicht jedesmal, wenn ich aus um Haus gehe oder auch nur aus dem Fenster gucke, den Mast sehe.
Wir haben überlegt, ob wir das Haus verkaufen und wegziehen sollen", hatte mein Vater gesagt. "Glaub nur ja nicht, daß wir uns darüber keine Gedanken gemacht hätten. Aber du bist ja schließlich ..."
Weiter kam er nicht, aber ich wußte, wie der Satz weitergegangen wäre. Du bist ja schließlich nicht ewig hier. In deinem Alter bleibt man nicht mehr lange zu Hause wohnen, du wirst zum Studium an die Uni gehen oder zu arbeiten anfangen und ein eigenes Zuhause haben. Aus den Augen, aus dem Sinn - auch das hatte er damit gemeint. Mit der Zeit werden die Leute aufhören, in uns die Eltern von diesem Mädchen zu sehen, sie werden aufhören, sich zu fragen, was für Eltern so eine wohl hat, sie werden aufhören, uns anzustarren und mit dem Finger auf uns zu zeigen. Vor allem, wenn du dich nicht allzu oft zu Hause sehen läßt. Vielleicht denken sie dann, daß du tot bist. Vielleicht erzählen wir ihnen das sogar.
Die letzten beiden Sätze sind reine Phantasie. Ich behaupte nicht, daß sie wünschten, ich wäre tot. Mein Wohlergehen liegt ihnen am Herzen, wie meine Mutter zu sagen pflegt. Und deshalb war sie wohl so froh und glücklich - seit der Geschichte mit dem Hochspannungsmast habe ich sie nicht mehr so froh und glücklich gesehen -, als Max mit seinem Angebot herausrückte. Bestenfalls hatten sie gehofft, ich würde ein Zimmer im Studentenwohnheim ergattern oder als viertes Mädchen in einer Wohngemeinschaft unterkommen.
"Eine Wohnung für dich allein!" sagte meine Mutter. "Und in einer so angenehmen Gegend." S. 7-8

"Du fängst also morgen an dieser Fachhochschule an, ja?" Es war eine jener Fragen, die als Antwort offenkundig nur ein Nicken verlangen. Ich nickte.
"Ich weiß nicht sehr viel über Institutionen dieser Art. Persönlich hatte ich nie viel mit ihnen zu tun. Sie liegen gewissermaßen außerhalb meines Erfahrungsbereichs." Man hätte denken können, daß Max sich über einen Stripteaseclub ausließ und nicht über eine hochanständige Bildungseinrichtung. "Nach dem, was deine Eltern mir erzählt haben, scheinst du deine Cancen auf eine vernünftige Ausbildung durch dein kriminelles Verhalten und dessen unausweichliche Folgen höchst leichtsinnig aufs Spiel gesetzt zu haben." S. 65


Lesezitat nach Barbara Vine - Heuschrecken


Über den Dächern Londons
Barbara Vine - Heuschrecken

as lässt die Herzen der Krimifreunde höher schlagen: Ein neuer, noch dazu ordentlich dicker Roman der bekannten englischen Thrillerautorin Barbara Vine, die auch als Ruth Rendell bekannt ist, liegt in den Regalen der Buchhändler.

Im Mittelpunkt der Handlung steht Chlodagh, eine junge Frau. Sie schreibt, während sie auf die Rückkehr ihres Ehemannes aus Afrika wartet, die Geschichte ihrer Jugend auf. In Zeitsprüngen wechselt sie zwischen der Gegenwart und ihrer wilden Teenagerzeit. Heute verdient sie sich ihren Unterhalt als selbständige Elektrikerin und führt ein eher beschauliches Leben. Die Wohnung hoch über den Dächern Londons ist geschmackvoll eingerichtet und Sorgen hat sie eigentlich nicht.

Das war nicht immer so. Mit siebzehn gab es für Chlodagh und ihren jungen Freund Daniel nichts Schöneres, als Hochspannungsmasten, die ihnen als Heuschrecken in der weiten Landschaft erscheinen, zu besteigen. Mit unbekümmerter Begeisterung kletterten die beiden an den gefährlichen Streben nach oben, bis das Unglück geschieht. David gibt einer leichtsinnigen Idee nach und stürzt ab, ohne dass Chlodagh eine Chance hat ihn zu retten.

Ihr macht dieser Vorfall lange zu schaffen. Sie wird depressiv und klaustrophobisch. Mit dem Besuch der Fachhochschule in London beginnt sie ein neues Leben. Doch schon bald vernachlässigt sie das Studium und treibt sich mit ihren neuen Freunden auf den Dächern herum. Für sie gibt es nichts faszinierenderes, als die Welt von oben zu erkunden. Der Blick in fremde Zimmer bringt sie auf die Spur einer Familie, die von der Polizei gesucht wird. Und wieder entwickelt sich Chlodaghs Leben in eine Richtung, die sie selbst bald nicht mehr steuern kann.

"Heuschrecken" ist kein Psychothriller der üblichen Art, obwohl Barbara Vine das Innenleben ihrer Figuren sehr präzise ausleuchtet. Mit einem unglaublich gemächlichen Erzähltempo tastet sie sich an die Ereignisse heran, die erst auf den letzten Seiten an Dynamik gewinnen. Also, mit Sicherheit ist "Heuschrecken" kein nervenzerfetzender Psychothriller, eher eine sehr gut geschrieben psychologische Studie über das Erwachsenwerden einer jungen Frau, die mehr als zehn Jahre ihrer Jugend damit beschäftigt ist, ihren Weg zu finden.

Doch es wäre nicht Barbara Vine, wenn sie den Roman nicht raffiniert erzählen würde. Da sind Andeutungen an der richtigen Stelle platziert, die das Interesse des Lesers wach halten, Erzählebenen wechseln, ein kurzer Ausblick auf zukünftige Ereignisse wird geschickt eingeflochten.

Am Ende resümiert Chlodagh: "Ich war zum erstenmal dem Bösen begegnet und hatte gesehen, was es anrichten konnte." © manuela haselberger


Barbara Vine - Heuschrecken
Originaltitel: Grasshopper, © 2000
übersetzt von Renate Orth-Guttmann
2001, Zürich, Diogenes, 644S., 23.90 EUR gebunden,     Verkaufsstart: 26.1.2001
2002, Zürich, Diogenes, 644S., 12.90 EUR


Fortsetzung des Lesezitats ...

Am schwersten geht es sich auf Dächern von Gebäuden, die Im Lauf der letzten hundert Jahre entstanden sind. Sie sind meist mit Dachziegeln oder Dachplatten gedeckt und sehr steil. Es scheint fast, als hätten erst Architekten des 20. Jahrhunderts wie Lutyens und Mackintosh und Voysey begriffen, daß es hier ziemlich viel regnet und bei steilen Dächern das Wasser besser abläuft. Auf flachen Schieferdächern geht es sich am besten, vor allem wenn sie zur Verkleidung der Schräge ein steinernes Gesims oder eine niedrige Mauerbrüstung haben. Je mehr Verzierungen ein Dach hat, je mehr Giebel, Türmchen, Kamine und Mansarden, desto leichter kann man es besteigen. Einzeln stehende Häuser sind für den ernsthaften Dachsteiger indiskutabel. Mögen ihre Dächer noch so flach sein, mögen ihre Gaubenfenster, ihre Giebel und Geländer noch so guten Halt bieten - sie bleiben Inseln. Die Kluft zwischen ihnen und dem Nebenhaus, die einige oder viele Meter breit sein kann, ist das Meer, das sie vom Kontinent trennt. Dachsteiger brauchen Häuserzeilen, in denen ein Haus am anderen steht, nach Möglichkeit nicht durch Kamine getrennt, die sich, von zehn, zwölf Kaminaufsätzen gekrönt, wie hohe Mauern über die ganze Breite des Dachs erstrecken. S. 144

Im September war mit der Zeitlosigkeit ein für allemal Schluß, und seit elf Jahren bin ich so sehr ein "Narr der Zeit" (der Ausdruck stammt von Silver, ich glaube, es ist ein Shakespeare-Zitat) wie jeder andere auch.
In jener Nacht aber hielt die Zeitlosigkeit uns noch umfangen. Ich weiß nicht, wie lange wir drei dort oben saßen, wenig Worte wechselnd und schließlich ganz schweigend, rauchten, Wims Schokolade aßen, auf die Lichter unter uns blickten und zusahen, wie der Mond aufging, hinter einer Wolke verschwand und schließlich verblaßte, bis uns die schleichende morgendliche Kälte nach Mitternacht durch unser Fenster zurück in die Wohnung trieb. Zum erstenmal begleitete Silver mich ins Fisherton-Verlies, gemeinsam schlichen wir die eiserne Treppe hinunter. Beryl war am nächsten Tag nicht zu erwarten, und Selinas Überraschungsbesuche fanden nie vor zehn statt. Mir war trotzdem nicht ganz wohl dabei, es wurde allmählich ein bißchen viel an Schwindel und Täuschung, fand ich und nahm mir vor, zumindest eine Sache am nächsten Tag zu klären. Ich würde Max sagen, daß mich meine Fachhochschule geschaßt hatte. S. 271

Wie eigenartig, dachte ich, daß wir wie selbstverständlich davon ausgehen, die Unterdrückten, die Benachteiligen, die Opfer seien immer nette Menschen. Tugendhaft und liebenswert, nahezu heiligengleich. Sind sie es nicht - und das Ist oft genug der Fall -, regen sich Groll und der Gedanke, daß sie die Rettung nicht verdienen. Aber der Mensch wird nicht über Nacht vollkommen, nur weil er in Gefahr ist oder in der Falle sitzt. Das sagte ich auch zu Judy, und sie lachte und meinte, bei Geiseln sei das ja in Ordnung, aber Andrew und Alison hätten ihre Lage selbst verschuldet, wenn sie Hilfe erwarteten, müßten sie eigentlich höflicher zu ihren Rettern sein. "Noch habt ihr sie ja auch nicht gerettet", sagte sie. S. 494-495

Fünf Minuten ehe wir gingen, richtete er sich ein bißchen auf und verkündete unvermittelt: "Wenn ich hier rauskomme, bring ich mich um."
Was sagt man darauf? Wenn du erst zu Hause bist, sieht alles anders aus? So darfst du nicht reden? Zu Hause - wo war das? Und was soll ein Mensch machen, dem sein wahres Zuhause für immer verschlossen ist?
Wir küßten ihn, Morna und ich auf die Lippen, Silver auf die Stirn. Mir war zum Heulen, als wir im Krankenhaus die Treppe hinuntergingen. Ich war zum erstenmal dem Bösen begegnet und hatte gesehen, was es anrichten konnte. Was ich bisher für das Böse gehalten hatte, war nur Ignoranz, Torheit und Unverständnis gewesen. An jenem Tag vor unserer Hochzeit, als ich Jonny am Steuer des dicken Wagens sitzen sah, erinnerte ich mich an das Böse, das er verkörperte, und meine Regung, seinen Erfolg zu belächeln und ihn insgeheim zu beglückwünschen, weil er diese flotte Blondine an Land gezogen hatte, verflüchtigte sich im Rauch seiner Zigarette. S. 597

Lesezitate nach Barbara Vine - Heuschrecken


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© 19.1.2001 by
Manuela Haselberger
Quelle: http://www.bookinist.de