Boyle zu lesen ist ein Erlebnis und Genuß, wie man ihn nur
selten im Jahr hat; wort- und sprachgewaltig ragen seine Bücher aus den Neuerscheinungen
heraus.
Die Geschichte des Buches ist bedenklich dürr und im Prolog
des Romans "Welt ohne Frauen" auf den ersten beiden
Seiten bereits fast vollständig erzählt: Der Millionenerbe Stanley McCormick, erfolgreicher Harvard Student, groß,
blond, sportlich, zuvorkommend, wohlerzogener Gentleman und fortschrittlicher
Automobilist, heiratet, neunundzwanzigjährig, 1904, die Millionenerbin
Kathrine Dexter, die mit einer ebensolchen Aufzählung charakterisiert
werden kann.
Doch ab diesem Zeitpunkt entwickeln sich die Dinge nicht mehr
so, wie in den Klatschspalten der Regenbogenpresse.
Der reiche Stanley hat massive psycho-sexuelle Probleme und folgt
seiner älteren Schwester, die "an einer Krankheit
litt, einer Krankheit, die man nicht sah, nicht sofort und nicht
an der Oberfläche. Ihre Krankheit schien sich zu vertiefen,
während sie in sie hineinwuchs, schien sich zu dehnen und
weiten, um sie aufzunehmen wie die Haut einer Anakonda."
Der Roman setzt ein mit der Zugreise Stanleys in Begleitung seines
Arztes und seiner persönlichen Pfleger von einer Bostoner
Irrenanstalt in sein 35ha großes Ein-Personen-Privatsanatorium
"Riven Rock" in Kalifornien.
Wie in seinem Roman "Worlds End" wendet Boyle hierbei
eine schriftstellerische Webtechnik an, mit der er die einzelnen
Kapitel seines Buches ineinanderfügt, Überkreuzungen
und Verzahnungen herstellt wie bei einem Reißverschluß
- zunächst weit geöffnet: Der Leser, gleichzusetzen
mit dem ZIP-Schlitten, der die beiden Stränge, auf denen
die Kindheits-und Erwachsenenerlebnisse des Protagonisten Stanley
sitzen, wird unter dem starken Zug von Daumen und Zeigefinger
des Autors Boyle die mehr oder weniger banale Kontur von Stanleys
Leben begreifen, je weiter die Schließe nach oben geschoben
wird.
In seinem Roman "Worlds End" gelang Boyle das genialer
als hier im "Riven Rock", allerdings auch wiederum wesentlich
besser als in "Willkommen in Wellville", weil er in
seinem neuen Roman seine Geschichte nicht nur aus den Blickwinkeln
von Katherine und Stanley erzählt, sondern noch eine dritte
(proletarische) Sicht aus den Augen des jahrzehntelangen Pfleger
Eddie O´Kane vermittelt.
Und so ist Boyles Buch nicht nur die Geschichte eines studierten
und wohlerzogenen WASP-Ehepaars, das wegen einer Psychopathia
sexualis seine in den Gazetten als Jahrhundert-Hochzeit gefeierte
Ehe offenbar niemals vollziehen kann, sondern ganz besonders die
Entwicklung eines armen, irischen Mittelschichtmenschen, dessen
Libido ihn früh zum Vater und Ehemann macht, an der Seite
des lebenslang, absolut frauenlos weggesperrten Stanley während
seiner Freischichten zum zügellosen Alkoholiker und Herumficker.
O´Kane, eine Figur so stark wie Mungo Park aus Boyles Roman
"Wassermusik" über den Entdecker des Niger, hat
nur - obwohl teilweise authentisch - keine so intensive historische
Geschichte.
Trotzdem ist der Roman ein handwerklich durch und durch gut erarbeiteter
Boyle, der nicht wie "Wellville" schnell für irgendeinen
deutschen Markt in die Maschine getippt wurde.
Wunderschöne Sprachbilder entzücken Auge und Hirn des
Lesers:
"Eine tote Taube mit Beinen so starr wie Fensterkreuze",
"Inzwischen war es Nacht. Der Zug fraß sich mit tristem,
gedämpftem Geratter über die Schienen.", "...
tauchte plötzlich Stanley auf, er schritt über die Anhöhe
und quer über das Spielfeld, mit Schutzbrille und einem Ledermantel,
der so staubig war, als hätte man ihn zur Vorbereitung auf
ein Kannibalenbankett in Mehl gewendet."
"... und die nassen Haarsträhnen sahen aus wie auf
eine Glühbirne gepappte Holzwolle.", "... und trank
dort genug Bier, um ein Schiff zu Wasser zu lassen."
"Und dann Rosaleen. Sie war so geistlos, dumm wie eine
Miesmuschel, brabbelte den ganzen Tag vom Nähen und von Schnittmustern,
und was nun hübscher sei, das blaue oder das gelbe, bis er
manchmal vom Tisch aufspringen und ihr die Kehle zudrücken
wollte. Und ihre Haushaltsführung - oder das Gegenteil davon!
Sie war ebenso dreckig und desorganisiert wie ihre käsegesichtige
Mutter und ihre knolligen Brüder, schmutzige Iren, Baracken-Iren,
die es nicht wert waren, seiner Mutter den Rocksaum zu küssen,
denn bei den O´Kanes hatte man nie auch nur ein Staubkorn
gesehen, gleichgültig wie arm sie waren. Außerdem nahm
sie zu, und das trieb ihn zur Raserei, denn bei jedem Blick auf
sie, auf das Fett, das sie an Hüften und Schenkeln ansetzte
und das ihre Brüste wie zwei Ballons aufblies, bis sie kaum
noch gerade stehen konnte, war er sich sicher, daß sie wieder
schwanger war. Und das hielt er einfach nicht aus.. Nicht in seinem
Alter, in dem er noch das ganze Leben vor sich hatte. Vielleicht
war es unrecht, aber so, wie er sich fühlte, würde ihm
die Belastung mit einem weiteren Kind selbst ins Irrenhaus bringen
- sie würden ihn an Mr. McCormick anketten müssen, und
dann könnten Sie einander anschreien und sich Seite an Seite
die Hosen vollpissen."
Und dabei erhält O´Kane so kompetente Belehrung: "»Sex
ist die Wurzel und der Urgrund allen menschlichen Tuns, Edward,
vom morgendlichen Aufstehen und dem Gang zur Arbeit bis zum Erobern
fremder Nationen, von der Erfindung der Glühbirne bis zum
Kauf eines neuen Mantels, vom Fleischverzehr bis zum Taxieren
jeder vorbeigehenden Frau als potentielle Paarungspartnerin. Sex
ist das A und O, unser Daseinszweck, eine unbezwingbare Lebenskraft.«
Der Doktor war einen Schritt näher getreten. O´Kane
sah die dunklen stoppligen Pfefferkörnchen an seinem Kinn.
»Wir sind Tiere, Edward, vergessen Sie das nie.«
"
Wer Geschmack an diesem Roman Boyles gefunden hat sollte
unbedingt noch "Wassermusik
" und "
Worlds End"
lesen, in denen der Schriftzug des Autors noch steiler und deftiger,
der Blick auf seine zwischen den Buchseiten geplätteten Opfer
sogar noch schärfer und sezierender war.
Auch sein Roman "Grün ist die Hoffnung" und seine
in Deutschland veröffentlichten Kurzgeschichten und Erzählungen
"
Wenn der Fluß voll Whisky wär" und "
Tod durch ertrinken" sind ein wahres Feuerwerk an Witz und beschreibender
Brillanz.
"
America", "
Der Samurai von Savannah" und
vor allem "
Willkommen in Wellville" gehören eher
zu seinen schriftstellerischen Brotproduktionen, die ein angehender
Kapitalist aus Kalifornien eben auch braucht., die andererseits
aber in ein Lebenswerk des Autors passen, das sich mit dem Blick
eines Insektenforschers zu unterschiedlichen historischen Epochen
durch das Gebaren und Verhalten verschiedener amerikanischer Gesellschaftsschichten
zueinander mit der ätzenden Genauigkeit einer Säure
auf den Grund frißt.