Der Norden
»Lord Asriel«, sagte der Rektor schwerfällig und trat vor, um ihm die Hand zu geben. Aus ihrem Versteck beobachtete Lyra seine Augen, und tatsächlich, Für den Bruchteil einer Sekunde zuckten sie zum Tisch, auf dem der Tokaier gestanden hatte.
»Rektor«, sagte Lord Asriel, »ich kam zu spät und wollte nicht mehr beim Abendessen stören, deshalb habe ich es mir hier bequem gemacht. Guten Abend, Prorektor. Es freut mich, daß Sie so gesund aussehen. Entschuldigen Sie meine ungepflegte Erscheinung, ich bin soeben erst gelandet Ja, Rektor, der Tokaier ist weg; ich glaube, Sie stehen mitten drin. Der Portier hat ihn vom Tisch gestoßen, aber es war meine Schuld. Guten Abend, Kaplan. Ich habe Ihren letzten Artikel mit großem Interesse gelesen...«
Er trat mit dem Kaplan zur Seite, und Lyra sah das Gesicht des Rektors wieder unverdeckt. Es zeigte keine Bewegung, doch der Dæmon auf seiner Schulter schüttelte sein Gefieder und trat ruhelos von einem Fuß auf den anderen. Lord Asriel beherrschte den Raum mit seiner Gegenwart, und obwohl er dem Rektor als dem Hausherrn mit ausgesuchter Höflichkeit begegnete, war klar, wer hier das Sagen hatte.
Die Wissenschaftler begrüßten den Besucher und verteilten sich im Zimmer. S. 25
Enttäuschung
Lyra mußte sich erst daran gewöhnen, was sie über ihre Vergangenheit erfahren hatte, und das konnte nicht von heute auf morgen gelingen. Daß Lord Asriel ihr Vater war, nun gut, doch Mrs. Coulter als Mutter zu akzeptieren war längst nicht so einfach, auch wenn sie darüber vor wenigen Monaten noch begei-stert gewesen wäre, wie sie sich verwirrt eingestehen mußte.
Doch es war nicht Lyras Art, sich lange zu grämen. Schließlich gab es in der Stadt vieles zu entdecken, und nur zu gern ver-blüffte sie die gyptischen Kinder mit ihren Geschichten. Noch vor Ablauf der drei Tage war sie eine Meisterin im Stocher-kahnfahren - oder hielt sich zumindest dafür und hatte eine Schar von Kindern um sich versammelt, die gebannt den Geschichten über ihren mächtigen, zu Unrecht gefangengehal-tenen Vater lauschten.
»Und dann war eines Abends der türkische Botschafter zum Abendessen in Jordan. Er hatte vom Sultan persönlich den Auf-trag, meinen Vater zu töten, und er trug am Finger einen Ring mit einem Stein, der innen hohl und mit Gift gefüllt war. Als der Wein bei Tisch herumgereicht wurde, tat er so, als wolle er über das Glas meines Vaters langen, und dabei schüttete er heimlich das Gift hinein. Das geschah so schnell, daß niemand es sah, außer...« S. 148
Die silberne Guillotine
Sofort zog Lyra den Kopf unter die schützende Kapuze aus Marderpelz und schob sich mit den anderen Kindern durch die Doppeltüren. Was sie sagen wollte, wenn sie Mrs. Coulter gegenüberstand, konnte sie sich später noch überlegen, zuerst mußte sie ein anderes Problem lösen: Wo konnte sie ihre Klei-der aus Fell verstecken, damit sie nicht um Erlaubnis fragen mußte, wenn sie sie brauchte?
Zum Glück herrschte im Haus, wo die Erwachsenen die Kinder zur Eile antrieben, um den Weg für die Passagiere aus dem Zeppelin frei zu machen, ein solches Durcheinander, daß niemand Lyra weiter beachtete. Sie schlüpfte aus Anorak, Gamaschen und Stiefeln, wickelte alles zu einem möglichst kleinen Bündel zusammen und drängelte dann durch die über-füllten Gänge zu ihrem Schlafsaal.
Dort schob sie rasch einen Spind in die Ecke, stieg hinauf und drückte gegen die Zimmerdecke. Die Platte ließ sich anheben, genau wie Roger gesagt hatte, und Lyra schob Stiefel und Gamaschen in den Zwischenraum darüber. Sie überlegte kurz, dann nahm sie auch das Alethiometer aus dem Beutel, ver-steckte es in der innersten Tasche des Anoraks und stopfte bei-des in dieselbe Lücke. S. 299
»Auch Iorek Byrnisons Streit mit seinem König gehört zu diesem Krieg«, sagte die Hexe. »Dem Mädchen ist es bestimmt, dabei eine Rolle zu spielen.«
»Sie sprechen von Bestimmung«, sagte Lee Scoresby, »als ob alles schon entschieden sei. Das gefällt mir im Grunde genausowenig wie ein Krieg, an dem ich teilnehme, ohne es zu wissen. Wo bleibt bitte schön mein freier Wille? Ich habe übrigens den Eindruck, Lyra hat mehr freien Willen als alle, die ich kenne. Wollen Sie denn sagen, das Mädchen sei nur eine Art mechanisches Spielzeug, das man aufzieht und dann in eine Richtung marschieren läßt, an der es nichts ändern kann?«
»Wir sind alle dem Schicksal unterworfen«, sagte die Hexe, »aber wir müssen so tun, als seien wir es nicht, sonst würden wir vor Verzweiflung sterben. Diesem Mädchen geht eine merkwürdige Prophezeiung voraus: Es ist ihr Schicksal, das Ende des Schicksals herbeizuführen. Sie muß das jedoch tun, ohne zu wissen, was sie tut, als sei es in ihrer Natur angelegt und nicht vom Schicksal bestimmt. Sagte man ihr, was sie tun muß, wäre alles vergebens; es wäre der Sieg des Todes in allen Welten und der Triumph der Verzweiflung für alle Zeiten. Die Welten wären nur ein Räderwerk, blind und ohne Geist, Gefühl, Leben ...« S. 348
»Zur Quelle? Wo kommt der Staub denn her?«
»Von jenem anderen Universum, das wir durch die Aurora sehen können.«
Lyra drehte sich zu ihm um. Entspannt lehnte ihr Vater in seinem Sessel, aber aus seinen Augen sprachen eine ungezügelte Kraft und eine Wildheit, die der seines Dæmons ebenbürtig war. Sie liebte ihn nicht, und sie konnte ihm nicht trauen, aber sie bewunderte ihn und den extravaganten Luxus, den er in die-ser Einöde zusammengetragen hatte, und seinen gewaltigen Ehrgeiz.
»Was ist das für ein anderes Universum?« fragte sie.
»Eine von Milliarden von Welten, die nebeneinander existie-ren. Die Hexen wissen sei Jahrhunderten davon, aber die ersten Theologen, die die Existenz dieser Welten mathematisch bewiesen, wurden vor gut fünfzig Jahren exkommuniziert. Dabei existieren sie, unbestreitbar. Allerdings hielt es bisher keiner für möglich, von einer Welt in die andere hinüberzutre-ten. Dadurch, so glaubten wir, würden elementare Gesetze ver-letzt. Nun, wir hatten unrecht. Es gelang uns. die Welt da oben zu sehen. Und wenn Licht dort hinüberkommt, können wir das auch. Wir mußten einfach erst lernen. diese Welt zu sehen. Lyra, wie du gelernt hast, das Alethiometer zu benutzen.
Diese Welt entstand nun wie jede andere Welt als Folge einer Möglichkeit. Es ist, als wurde man eine Münze werfen: Sie kann mit Kopf oder Zahl herunterfallen. aber wir wissen es erst, wenn sie heruntergefallen ist. Liegt der Kopf oben, heißt das, die Möglichkeit, daß die Zahl oben liegt, ist ausgeschieden. Bis zu diesem Moment waren beide Möglichkeiten gleichberechtigt.
Aber in einer anderen Welt liegt die Zahl oben. Wenn das geschieht, brechen die beiden Welten auseinander. Ich ver-wende das Beispiel mit der Münze zur Veranschaulichung. Daß bestimmte Möglichkeiten ausscheiden, passiert auch auf der Ebene der Elementarteilchen auf genau dieselbe Art: Im einen Moment sind noch mehrere Dinge möglich, im nächsten wird aus einer Möglichkeit Wirklichkeit, und die anderen Möglich-keiten gibt es nicht mehr. Es sei denn, es entstehen andere Wel-ten, in denen diese Möglichkeiten verwirklicht wurden.
Und ich werde die Welt jenseits der Aurora betreten, weil ich glaube. daß aus ihr der Staub in diese Welt kommt. Du hast die Lichtbilder gesehen, die ich den Wissenschaftlern im Ruhezimmer gezeigt habe. Du hast die Stadt selbst gesehen. Wenn Licht die Barriere zwischen den Welten überwinden kann, wenn der Staub das kann und wenn wir diese Stadt sehen kön-nen, dann können wir auch eine Brücke hinüberbauen und sie überqueren. Dazu braucht man allerdings einen ungeheuren Schub an Energie. Aber ich kann es schaffen. Irgendwo von da draußen kommen Staub, Tod, Sünde, Elend und die ganze Zerstörungswut auf dieser Welt. Die Menschen können nichts sehen, ohne es gleich zerstören zu wollen, Lyra. Das ist die eigentliche Erbsünde. Und ich werde sie vernichten. Der Tod wird sterben.«
»Haben sie dich deshalb hier eingesperrt?«
»Ja. Sie haben schreckliche Angst. Und mit gutem Grund.«
Er stand auf, und auch sein Dæmon erhob sich, stolz, schön und tödlich. Lyra saß regungslos da. Sie hatte Angst vor ihrem Vater; zugleich bewunderte sie ihn zutiefst, und sie hielt ihn für völlig verrückt. Aber durfte sie sich ein Urteil anmaßen?
»Geh schlafen«, sagte er. »Thorold zeigt dir dein Zimmer.« Er wandte sich zum Gehen.
»Du hast das Alethiometer liegenlassen«. sagte sie.
»Ach ja, aber ich brauche es jetzt eigentlich gar nicht«, sagte er. »Ohne die Bücher würde es mir sowieso nichts nützen. Ich glaube mehr, der Rektor von Jordan wollte es dir geben. Hat er wirklich gesagt, du solltest es mir bringen?« S. 420-421
Lesezitate nach Philip Pullmann - Der goldenen Kompass